Labyrinth


Es war einmal eine Königin, die nannte sich selbst „Amazone“ und lebte im Land Furiana, dem Land der erloschenen Vulkane. In ihrer Kindheit hatte sie ein Fluch der Hexe Krux getroffen. Jener Fluch zwang die Königin in einem Schloss mit tausend Zimmern zu leben, das von außen betrachtet eher wie eine finstere Ritterburg aussah. Normalerweise heißt es ja in Märchen, dass nur diejenigen ein Fluch trifft, die vorher etwas Böses getan haben oder charakterschwach sind. Im Falle der Königin Amazone traf der Fluch sein Opfer jedoch willkürlich und ohne eigenes Verschulden. Die Hexe Krux hatte einfach nur Spaß daran, Menschen zu quälen; und wenn es sich um so erlauchte Menschen wie die Königin handelte, war ihre Freude nur umso größer. Die wahre Heimtücke des Fluches bestand nun darin, dass niemand die Königin je finden sollte, der sie aufrichtig liebte. Die Hexe verfügte nämlich, dass, sobald ein aufrecht Liebender jemals das Schloss beträte, er sich in den Tiefen eines undurchschaubaren Labyrinths verirren sollte. Von Sehnsucht getrieben, sollte Amazone in ihren tausend Zimmern nach ihm suchen und an ihrem goldenen Käfig verzweifeln. Wie bei jedem Hexenfluch im Märchen, gab es jedoch auch bei diesem einen Ausweg: Er bestand darin, dass sich der Liebende, bis hin zur Selbstaufgabe, seiner Suche widmete und eher sterben würde als sein Verlangen aufzugeben. Wer die Königin so liebte, sollte sie nach dem Willen der Hexe im Kronleuchtersaal antreffen. Was dann geschehen würde, war der Hexe egal, denn schließlich gab es noch andere Unschuldige, die ihrer Flüche harrten. So scheiterte ein Freier nach dem anderen an seinem Willen, während die Königin einsam und glücklich in ihrem Schloss lebte. Das vermeintliche Glück beruhte auf der Annahme der Monarchin, sie stünde über den Dingen und teilte die Bedürfnisse der gemeinen Menschen nicht. Das aber war eine Lüge. 

 
Wie sollte sich nun aber Liebe entwickeln, wo sich doch kein Freier der erlauchten Herrscherin jemals nähern durfte? Schließlich kann sich ein Mensch ja nicht in einen Namen oder in eine Vorstellung verlieben, sondern immer nur in einen Menschen. Wie manches tiefe Geheimnis ist auch dieses schnell erklärt: Im Schloss herrschte das an Königssitzen übliche Treiben - Prinzen und Könige gingen ein und aus, Feste wurden gefeiert, Schauspiele dargeboten, Musiken aufgeführt und die Königin veranstaltete Tänze und Dichterlesungen. Dabei traf sie auf viele Männer, die um ihre Gunst buhlten und sich bemühten, von der Herrscherin auserwählt zu werden. Solange die Königin davon nicht berührt war, gingen die Freier im Schlosse ein und aus, ohne von dem finsteren Geheimnis jemals zu erfahren. Erwiderte Amazone jedoch die Liebe eines Mannes, stellte sich das Schloss dieser Liebe mehr und mehr in den Weg, bis die Suche nach der Königin und deren Verlangen, gefunden zu werden, unerträglich wurden. Umso stärker also die Liebe der Königin anwuchs, umso mehr begann das Schloss sie zu verbergen. Der eigentliche Fluch jedoch setzte erst ein, wenn die Königin ihre Liebe erkannte und sie ihre eigene Sehnsucht spürte. Dann versperrte das Schloss alle Riegel, trieb die Königin durch ihre Gemächer und verhinderte jedes Zusammentreffen der Liebenden.


An einem finsteren Herbsttage begab es sich nun, dass die Königin eine ihrer geschätzten Dichterlesungen veranstaltete. Fünf Dichter, deren Werke sie schon kannte, versammelten sich im Kronleuchtersaal und trugen dort Märchen, Balladen und Erzählungen vor. Fast niemand im Hofstaat verstand die Vorliebe der Königin für die Dichtung. Aber die Untertanen taten so, als ob sie sich für die Worte der Poeten interessierten und klatschten höflich Beifall. Einer unter den Dichtern, ein schmutziger, ungepflegter Jüngling namens Cleophas, berührte die Herrscherin ganz besonders, ohne dass sie sich erklären konnte, woran das lag. Er machte nicht gerade einen besonders höfischen Eindruck, doch schien sich die Königin in seinen Sätzen zu spiegeln, wie in einem tiefen Teich bei Windstille. Sie lauschte seinen Worten, während sie sich mit ihrer rechten Hand das Kinn rieb. Ihr war, als wäre die Zeit stehen geblieben und in dem mächtigen Kronleuchtersaal befänden sich nur noch zwei Menschen - sie und der junge Cleophas. Eine unglaubliche Kraft ging von seinen Versen aus, eine Kraft, die Königin Amazone erst in die Höhe hob und sie dann fallen ließ, als wäre sie ein Stein, der von einem Bergkamm in die tiefste Schlucht stürzte. 

 
Nachdem der Dichter seinen Vortrag beendet hatte, ließ ihm die Herrscherin ausrichten, dass er sich bei den nächsten Lesungen wieder bei Hofe einzufinden habe. Cleophas wurde mit fünf Goldstücken entlohnt, die er dankbar in seinem Lederbeutel verwahrte. Obwohl er sich über die Großzügigkeit der Monarchin freute, wäre ihm die Anordnung der Königin vermessen erschienen, hätte er während des Vortrages nicht in ihre smaragdgrünen Augen geblickt und dabei das Verlangen verspürt, sie wiederzusehen. Denn - wie jeder Dichter - war auch Cleophas ein Freigeist, der sich ungern etwas befehlen ließ. Den Befehl zu den Lesungen, nahm er jedoch gerne an.


Es vergingen keine vierzehn Tage, da veranstaltete die Königin schon die nächste Lesung. Das versetzte die meisten eingeladenen Poeten in helle Aufregung, weil ihre Monarchin solche Veranstaltungen normalerweise nur monatlich abhielt. So mussten einige der Eingeladenen ihre anderweitigen Verpflichtungen absagen und fanden sich getreu der königlichen Weisung an einem Sonntag zu dem Termin bei Hofe ein. Die Königin legte äußersten Wert auf Pünktlichkeit und konnte sehr vermessen reagieren, wenn einer ihrer Untertanen darauf keine Rücksicht nahm. So erschienen die Dichter genau zur achten Abendstunde und versammelten sich an ihren Podien im Kronleuchtersaal. Die Podien waren halbkreisförmig um den Thron der Herrscherin angeordnet, als müssten die Dichter untereinander eine Diskussion führen. Nur einer der Plätze blieb frei – jener, der für Cleophas reserviert war und sich genau gegenüber der Stirnseite des Thrones befand. Wegen dieses Umstandes herrschte im Kronleuchtersaal eine angespannte Stille, die geradezu elektrisierend auf die versammelten Gäste wirkte. Das Publikum verharrte still und stumm auf den Rängen, während die Königin konzentriert auf den leeren Platz starrte. Aber sie war nicht zornig, wie es das Publikum und die anderen Dichter vermuteten, sondern niedergeschlagen, denn sie ahnte bereits, was geschehen war.


Cleophas war gut zwei Stunden zuvor durchs Schlosstor getreten und hatte sich voller Vorfreude auf den Weg in Richtung Kronleuchtersaal gemacht. In Gedanken hatte er das Bild der Königin vor sich gesehen: Bei der letzten Lesung war sie in anmutiger Pose auf ihrem Thron gesessen und hatte seinen Worten gelauscht, als durchstreife sie andere Dimensionen. Wie eine schöne Venus aus der Barockzeit war sie ihm erschienen - das Kinn auf ihr linke Hand gestützt, sich entspannt auf dem Throne räkelnd, als wollte sie den Dichter mit ihren reizvollen Kurven verführen. Ihre Augen hatten geleuchtet, als brannte dahinter das wärmende Feuer der Liebe. Noch jetzt spürte Cleophas wie ein Strom des Friedens und der Genugtuung durch ihn floss, wenn er sich die Bilder in Erinnerung rief. 

 
Aber musste er nicht längst im Kronleuchtersaal angekommen sein? Der Weg dorthin war nicht schwierig gewesen, außerdem hatten ihn zwei Hofdiener ins Foyer begleitet. Jetzt aber hatte er den Eindruck, als ob das Schloss seit seinem letzten Besuch größer und verwinkelter geworden wäre. Er schaute sich um und erkannte, dass die Hofdiener plötzlich verschwunden waren. Was gingen hier für seltsame Dinge vor? Auch seine Umgebung, die Gänge und Flure des Schlosses erschienen ihm immer merkwürdiger. Die Wände waren mit seltsamen Mustern verziert, die sich dem Zeitgeschmack widersetzten. Die Zierfiguren wirkten handwerklich schäbig und unvollkommen auf Cleophas. Er fragte sich, ob er hier ohne Absicht in die geheime Welt einer Nihilistin vorgedrungen sei. Kreise, Dreiecke, Quadrate und Pentagramme zierten die Wände wie magische Symbole. Um die Figuren waren Zahlen und Zeichen angeordnet, die für Außenstehende keinen Sinn ergaben. Je weiter Cleophas in die geheime Welt des Schlosses eintauchte, umso mehr änderte sich seine Stimmung. Und mit seiner Stimmung änderten sich auch die Beleuchtung und Atmosphäre im Schloss. Er fühlte sich niedergeschlagen und von einer finsteren Macht gehemmt, deren Absichten ihm verborgen blieben. Sein Körper war in fahlrotes Licht getaucht, das aus den Fugen zwischen den Mauersteinen zu dringen schien. So verstrichen Stunden der Suche und Verwirrung, die Cleophas an den Rand der Verzweiflung trieben.


Gerade begann er an seinem Verstand zu zweifeln, da stürzte er zwischen den Dimensionen durch eine Mauer und fand sich danach inmitten des Kronleuchtersaals wieder. Gestützt auf Arme und Beine blickte er auf das Mosaik am Schlossboden und vernahm im Hintergrund das erstaunte Gemurmel des Publikums. Verwirrt richtete er seinen Blick nach oben und gewahrte die Königin, die schweigend vor ihm auf ihrem Thron saß. Er brauchte einen Moment, um die neue Situation zu begreifen. Eben noch war er in einem Labyrinth gefangen gewesen und nun war er ein Schauobjekt für den Hofstaat von Königin Amazone. Ihre Gesichtszüge spiegelten eine Mischung aus Erleichterung und Entsetzen wieder. Mit einer majestätischen Geste bat sie den Dichter ans Podium, wo er gehorsam seinen Platz einnahm. Cleophas wusste immer noch nicht, wie und was ihm geschehen war. Aber er fügte sich in den Willen der Herrscherin und begann mit dem Vortrag seiner Gedichte. Indes lehnte sich die Königin zufrieden in ihren Thron zurück, weil es ihr erstmals gelungen war, einen Mann, der ihr gefiel, so weit aus ihren Gedanken zu verdrängen, dass sie das Schloss und den Fluch der Hexe Krux hatte überlisten können. Offenbar war der eine Moment der Ablenkung ausreichend gewesen, um den Dichter aus dem Labyrinth in den Kronleuchtersaal zu spucken. Da stand er nun, rezitierte Verse und rührte seine Herrscherin zu Tränen. Sie musste ihn unbedingt ermuntern, sich dieser Prüfung ein weiteres Mal zu stellen. 

 
Die Dichterlesung endete ohne weitere Zwischenfälle. Das Publikum verließ den Kronleuchtersaal, wobei sich die Gäste flüsternd unterhielten. Die Königin verharrte entgegen ihrer Gewohnheit auf dem Thron, so dass die Dichter warten mussten, ehe sie ihren Heimweg antreten durften. Nach und nach verhallten die Stimmen in den Gängen und Gewölben des Schlosses. Schließlich kehrte wieder Stille ein und Amazone bedeutete ihrem Hofdiener, er möge nach Cleophas schicken und die anderen Dichter entlassen. Wenig später verneigte sich der Poet gehorsam vor dem Thron seiner Herrscherin und erwartete ihre Anweisungen. Er hatte gehört, wie sehr seine Königin auf Pünktlichkeit versessen war und fürchtete getadelt zu werden. Doch anstatt von Cleophas eine Rechtfertigung zu fordern, gab Amazone ihm nur einen einzigen Satz mit auf den Weg; einen Satz, den er sich gut merken sollte, und der sein Schicksal unaufhaltsam in eine andere Richtung lenkte. Der Satz lautete: „Bleib deinem Verlangen treu!“ Wie beiläufig sprach die Königin die Worte aus, wandte sich ab und zog sich in ihre Gemächer zurück. Ihre Stimme hallte im Geiste des Poeten aber noch lange nach. 

 
Natürlich wurde Cleophas auch zur nächsten Dichterlesung an den Hof bestellt. Und natürlich zeigte der Fluch auch dieses Mal seine Wirkung. Weil der Dichter davon aber nichts wusste, brauchte er einige Zeit, ehe er merkte, dass er sich schon wieder in dem Schlossgemäuer verlaufen hatte. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz: er sehnte sich danach, seine Herrscherin zu sehen, doch etwas Ungreifbares, Unsichtbares stellte sich ihm in den Weg. An einer Abzweigung überlegte er sich, wie er wohl schnellstmöglich zum Kronleuchtersaal gelangen konnte. Über ihm tat sich eine Glaskuppel auf, unterhalb derer vier Gänge abzweigten, die allesamt sichtbar in die Tiefe führten. Das war paradox, denn Cleophas war aus einem der Gänge ans Licht getreten und fest überzeugt davon, dass ihn sein Weg schon zuvor abwärts geführt hatte. Wie konnte er aber nach unten gegangen sein, wo doch nun wiederum alle Gänge in die Tiefe führten? Dafür gab es nur eine Erklärung: Das Schloss musste sich unterwegs verändert haben. Aber wie war das möglich? Nachdenklich rieb er sich das Kinn und schaute sich aufmerksam um. Die Glaskuppel befand sich ungefähr zehn Meter über ihm, und an einer Wand waren Eisenringe eingemauert, an denen er hochklettern konnte. Aus Neugier machte er sich daran, die Ringe zu erklimmen. Schritt für Schritt, Stufe um Stufe, stieg er die Wand in Richtung Glaskuppel empor. Oben angekommen, untersuchte er aufmerksam die Glasflächen. Auf einer der Scheiben entdeckte er eine Ausbuchtung, die auf Druck reagierte und ein Fenster nach außen freigab. Er kletterte noch ein Stück hoch und schaute durch das Fenster in die Ferne. Ein Schreck durchfuhr seine Glieder: Das Schloss von Königin Amazone thronte am Horizont, in einer Entfernung, die er in der kurzen Zeit unmöglich zurückgelegt haben konnte. „Bleib deinem Verlangen treu“, schoss es ihm durch den Kopf, „bleib deinem Verlangen treu, Cleophas!“


Verwirrt schloss er das Fenster über sich und kletterte zurück. Erst beim Abstieg wurde ihm bewusst, wie hoch sich die Kuppel über dem Boden befand. Ihm war ganz mulmig zumute, als er seine Situation begriff, denn der Dichter war durchaus kein furchtloser Mensch und er hatte gerade eine Grenze überschritten, an die er sich unter normalen Umständen nicht einmal herangewagt hätte. Unten angekommen bemerkte er, dass er sich sehr ausgehungert fühlte und einen schlechten Geschmack im Mund hatte. Vom Gefühl her durften seit seiner Ankunft im Schloss keine zwei Stunden verstrichen sein, doch sein Körper signalisierte ihm, dass er schon mindestens einen Tag lang durch das Gewölbe geirrt sein musste. Ein metallisch bitterer Geschmack legte sich über seinen Gaumen, der seine Ahnungen bestätigte. Er leckte sich mit seiner Zunge über die Lippen und spürte, wie diese vor Trockenheit schon rau und spröde geworden waren. Noch einmal wagte er einen Blick nach oben. Was war das? Nein, das konnte doch nicht sein! Die Fenster schienen seit seinem Abstieg mindestens fünf Meter weiter nach oben gewandert zu sein. Wie sollte er diesem Gefängnis jemals entrinnen? Erstarrt vor Schrecken hielt sich Cleophas die Hände vors Gesicht und rieb sich damit die Augen. Seine Finger fühlten sich knöchern und ausgemergelt an, als habe er schon seit Wochen nichts mehr gegessen. 

 
Denk an dein Verlangen“, schoss es ihm durch den Kopf, „denk an dein Verlangen, Cleophas!“ Es war die Stimme seiner Herrin, die da in ihm widerhallte. Als er sie erkannte, fasste er sich ein Herz und wählte einen jener Gänge in die Tiefe, die aus dem Kuppelraum abzweigten. Die Gänge waren allesamt unbeleuchtet, so dass er seine Gliedmaßen schon nach wenigen Minuten nur noch als schwache Umrisse wahrnahm, die sich grau in grau von ihrer unheimlichen Umgebung abhoben. Je dunkler es wurde, umso mehr erinnerte er sich aber an die schönen Augen seiner Königin, die ihm durch die finsteren Gewölbe scheinbar vorauseilten, um ihm den rechten Weg in den Kronleuchtersaal zu weisen. Wie bei seinem ersten Ausflug in das Schlosslabyrinth stieß er unterwegs auf Wände, die mit seltsamen Zeichen bemalt waren, auf Hexensymbole, Zahlenreihen und Mauerfugen, aus denen es mal grünlich, mal rötlich schimmerte und die allesamt dazu geschaffen schienen, seinen Geist zu verwirren. Er verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit in diesem Gefängnis, gleichzeitig wuchs seine Liebe zur Königin, je tiefer er in die Finsternis des Schlosses eindrang. Sein Entschluss stand fest: Er würde den Weg zum Kronleuchtersaal finden, kostete es, was es wollte. Denn die Stimme in seinem Kopf trieb ihn immer weiter und peitschte ihn vorwärts, ohne dass er wirklich begriff, was geschah. „Denk an dein Verlangen“, hallte es in ihm wider, „denk an dein Verlangen, Cleophas!“


So verstrich eine unbestimmte Zeit, in der Cleophas mehr und mehr bemerkte, wie seine Kräfte schwanden. Ein nervtötender Schwindel befiel ihn, der ihm unter anderen Umständen sicher Angst gemacht hätte. Vor Erschöpfung zitternd, stützte er sich unterwegs an den Ziegelwänden ab, die ihm nunmehr wieder gewöhnlicher und weniger mystisch erschienen. Die seltsamen Symbole waren von den Wänden verschwunden und am Ende des Gewölbes zeichnete sich ein Licht ab, das ihn hoffen ließ, wieder auf dem rechten Weg zu sein. 

 
Nach etlichen Anstiegen, Rundtreppen und Abbiegungen ging es endlich wieder abwärts. Erschöpft stolperte Cleophas in Richtung des Lichtschimmers. Je näher er dem letzten Rundbogen vor dem Ziel kam, umso deutlicher erkannte er, dass ihm seine Umgebung seltsam bekannt vorkam. Ein unheilvolles Gefühl übermannte ihn, als er in den gleißend hellen Raum trat. An einer der Wände entdeckte er einen Spiegel. Gegenüber waren Eisenringe eingemauert, die wie eine Leiter nach oben führten. Cleophas getraute sich kaum, seinen Blick zu heben. Er ahnte, was er über sich entdecken würde. Und er ahnte, welche Eindrücke sich vor ihm auftun würden, wenn er einen Blick zurück zum Rundbogen warf. Er hielt sich beide Hände vors Gesicht und verdeckte damit seine Augen. Ihm war danach, seine letzten Eindrücke einfach wegzuwischen. Er wollte sich die Bilder aus dem Gesicht reiben, seine Erinnerungen löschen und den Weg für neue Hoffnungen frei machen. Doch als er vorsichtig zwischen seine Fingern hindurch lugte, erkannte er genau das, was er schon befürchtet hatte: Er befand sich in einer runden Kammer, aus der in allen vier Himmelsrichtungen Gänge abzweigten. Durch einen davon war er soeben getreten, die anderen drei führten wiederum in die Tiefe. Er blickte auf seine Hände und merkte, dass sie noch ausgemergelter wirkten, als beim letzten Mal. Mit einer bösen Vorahnung wandte er sich um und schaute zurück zum Rundbogen. Wie erwartet, erkannte er auch dahinter einen Gang – einen Gang, der unbarmherzig ins Dunkel eines Kellers führte, tief in die Finsternis des Schlossgewölbes. Er erinnerte sich sehr deutlich, dass er zuletzt bergab gegangen war, ehe er ans Licht getreten war. Das Schloss musste sich also wieder verändert haben, seit er den Rundbogen verlassen hatte. Zweifellos erinnerte der Raum an den Kuppelsaal, von dem er zuletzt aufgebrochen war. Nur wenige Details wichen von seinen Erinnerungen ab: Ein goldgefasster Spiegel, der wie ein Gemälde zwischen zwei Gängen im Gemäuer hing und die Höhe der Glaskuppel, die nunmehr nur noch knappe vier bis fünf Meter über dem Boden prangte. Der Spiegel war vorher gewiss nicht da gewesen. Cleophas warf einen Blick zur Seite und entdeckte an einem der eingemauerten Eisenringe einen grauen Stofffetzen. Der Stoff kam ihm seltsam bekannt vor, so bekannt, dass ihn ein kalter Schauder übermannte, als er den Fetzen aus der Nähe betrachtete. Hektisch tastete er seinen Mantel ab und untersuchte ihn auf Risse. Tatsächlich: Am Saum fehlte genau jenes Stück Stoff, das er nunmehr nachdenklich in seinen Händen hielt. Er musste schon hier gewesen sein. Aber wie viel Zeit war verstrichen, seit er den Raum unter der Glaskuppel verlassen hatte? Und woher kam der Spiegel? Ihm fehlte jede Erinnerung daran. Vorsichtig betrachtete er dessen Goldfassung, die von dämonischen Arabesken umrankt war. Seltsame Wesen der Unterwelt waren da abgebildet, Wesen, deren Häupter sich in Rauch auflösten, der sich in geschwungenen Linien um die Spiegelflächen kräuselte. Als Cleophas sich darin erblickte, schrak er zurück. Er wusste noch genau, dass er sauber rasiert und frisiert gewesen war, als er das Schloss am Abend betreten hatte, nun aber blickte er in ein Gesicht, dessen Haut sich pergamentartig über die Wangenknochen spannte - ein Gesicht, das von einem zotteligen Bart und filzigem Haupthaar umrahmt war, ein Gesicht, das so ungepflegt wirkte wie dasjenige eines Bettlers. Wie konnte er sich in so kurzer Zeit derart verändert haben? Was würde geschehen, wenn er seiner Königin so gegenüber träte? Sollte er das Schloss einfach durch das Kuppelfenster verlassen? „Denk an dein Verlangen“, hörte er es in sich klingen. „Denk an dein Verlangen, Cleophas!“


Wieder kletterte er an den Eisenringen nach oben zur Glaskuppel, wieder öffnete er das Fenster und wieder schaute er in Richtung Schloss, das nun wesentlich näher zu sein schien, als beim letzten Mal. Die Versuchung war groß: Sollte er das Labyrinth verlassen? Würde er den Weg zurück finden, wenn er es sich anders überlegte? Lohnte es sich überhaupt, nach der Königin zu suchen? Cleophas war am Ende seiner Kräfte. Sein Magen knurrte, sein Kopf schmerzte und ihn plagte ein Durstgefühl, das beinahe schmerzhaft war. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er mit seinem Leben spielte, wenn er seine Königin nicht aufgab. Genau in dem Moment materialisierte sich wenige Meter von ihm entfernt ein Tisch in der freien Landschaft, der mit allerlei Leckereien und Getränken gedeckt war. Er brauchte nur die Glaskuppel zu verlassen, schon konnte er sich an den Speisen laben, sich stärken und wieder zu Kräften kommen. Aber so plötzlich, wie der Tisch erschienen war, musste da etwas faul sein. Innerlich ahnte Cleophas, dass die Glaskuppel verschwinden würde, sobald er zurück ins Freie trat. „Denk an dein Verlangen“, hörte er es da flüstern, „Denk an dein Verlangen, Cleophas!“ Und so kehrte er um und stieg zurück ins Labyrinth, das seine traute Königin verborgen hielt. Dieses Mal machte er nicht den Fehler, in den Abgrund zu schauen: Nein, stoisch kletterte er Stufe um Stufe abwärts und beobachtete dabei, wie die Glaskuppel über ihm in immer weitere Ferne rückte. In seiner Schwäche und Müdigkeit erkannte er erst gar nicht, dass es bei seinem Abstieg stetig finsterer um ihn wurde. Das einfallende Licht verdichtete sich mehr und mehr zu einem winzigen Punkt, dessen Strahlkraft kaum noch ausreichte, die eingemauerten Metallringe zu beleuchten. „Denk an dein Verlangen“, lockte die Stimme der Königin, „denk an dein Verlangen, Cleophas!“


Ein Gefühl der Liebe durchströmte den Dichter, das ihn immer weiter in den Abgrund trieb. Die Stimme seiner Herrscherin schien ihn zu locken, so sehr, dass er sie wahrlich zu hören glaubte. Sie kam aus der Tiefe des Tunnels, während Cleophas sich immer mehr in seinen Gedanken verloren glaubte. Er wollte nur noch bei Amazone sein, sehnte sich in ihre Nähe und vergaß dabei, dass ein Voranschreiten bis an den Grund seinen sicheren Tod bedeuten musste. Als er sich dessen bewusst wurde, schaute er noch einmal nach oben zur Kuppel, die nun kleiner erschien als ein Stecknadelkopf. Noch einen Schritt weiter und seine Kräfte würden nicht mehr ausreichen, um zu dem Fenster in die Freiheit zurückzukehren. Sein Schicksal wäre dann besiegelt und er überantwortete sich dem Untergang. Er wusste nicht weshalb, aber Cleophas erkannte plötzlich sehr deutlich, dass er seine Königin wiedersehen würde, wenn er sich auf den nächsten Schritt einließe. Einen Moment lang haderte er noch mit seinem Schicksal, dann löste er sein rechtes Bein vom letzten Steigring, tastete damit im Dunkeln nach dem nächsten Halt, verlor seine Kraft und stürzte in die Tiefe, wie ein Stein, der in einen tiefen Brunnen fiel.


Als er wieder zu sich kam, fand er sich alleine vor dem Thron seiner Herrscherin wieder. Gedankenversunken saß sie da und wirkte sehr bekümmert auf den Dichter. Sie bemerkte nicht gleich, dass sie nicht mehr alleine im Saal war. Das schenkte Cleophas die Zeit, noch einmal an sich hinabzublicken, um zu schauen, welchen Eindruck er wohl bei seiner Angebeteten hinterlassen würde. Zu seinem Erstaunen wirkten seine Hände so kräftig und stark wie immer. Sein Bart war aus dem Gesicht verschwunden und ihn plagte kein Hunger- oder Durstgefühl mehr. Er räusperte sich, entnahm aus seinem Mantel ein zusammengefaltetes Blatt Papier und trug der Herrscherin das Gedicht vor, das er für die letzte Dichterlesung in ihrem Schloss vorgesehen hatte. Amazone hob den Blick, strahlte, eilte Cleophas aus ihrem Thron entgegen und schloss den Dichter in ihre Arme als kannten sie sich schon immer. „Denk an dein Verlangen“, flüsterte sie ihm ins Ohr, „denk an dein Verlangen, Cleophas!“ Noch oft flüsterten sie sich diese Worte zu. Und sie lebten glücklich von dem Tage an. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.













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