Das Märchen von der Diamantbrosche





Es war einmal ein trauriger König, der lebte in einem wundervollen Schloss im Lande Nimmersatt. Im Grunde durfte er nicht traurig sein, denn er hatte alles, was ein Mensch zum Leben brauchte. Dennoch fühlte er sich oft leer und einsam, weil er niemanden hatte, der ihn verstehen konnte, niemanden, der ihm zuhörte und keinen Menschen, der begriff, was tief in seinem Herzen vorging. Zeitlebens hatte er sein Schloss nie verlassen, weil sein Vater ihn schon als Kind darin eingesperrt hatte. Als Junge war er gerne durch die Korridore geschlendert und hatte nach Geheimgängen und versteckten Zimmern gesucht. So entstand in seinem Inneren ein Reich der Fantasie, in das er eintauchen konnte, wann immer ihm die äußere Welt zu eng und finster wurde. Schließlich untersagte man ihm als Königssohn den Kontakt zu Gleichaltrigen und er musste seine Sehnsucht nach menschlichen Kontakten  stillen. Deshalb schuf er sich imaginäre Freunde, die ihn stets begleiteten und ihm halfen, wenn er stolperte oder es ihm sonst einmal schlecht ging.

 

Im Schloss gab es einen Raum im Südwestflügel, der allen Bewohnern des Hofstaats strikt verboten war. Der alte König hatte den Eingang einst zumauern lassen, weil in den Räumen etwas unendlich Böses und Hinterhältiges lauern sollte. Ein Fluch, vor dem er seinen Sohn eindringlich warnte. So sehr, dass der junge Prinz, sich nicht einmal getraute, den Südwestflügel überhaupt zu betreten. Aber als er eines Tages selbst König geworden war, befiel ihn die Neugier und er machte sich auf, den Südwestflügel mit seinem Baumeister zu betreten, um nach dem verbotenen Zimmer zu suchen. Sie erklommen eine Wendeltreppe, die direkt in den Glockenturm führte, dessen bunte Bleiglasfenster der junge Prinz einst vom Schlosshof aus bewundert hatte: Seltsame Motive waren darin eingraviert, die man aus der Ferne nicht richtig deuten konnte. Als Junge hatte der König oft von der Kastanie am Schlossbrunnen aus zum Turm geschaut und gesehen, wie sich die Sonne im Abendlicht darin spiegelte. Manchmal schien es, als ob von den Fenstern ein Regenbogen ausginge, der vom Schloss aus in Richtung Norden wanderte. Das war so schön gewesen, dass der junge Prinz zuweilen seine Furcht vor dem Südwestflügel verloren und sich geschworen hatte, das verbotene Zimmer einst zu suchen, sobald er selbst Herrscher über das Land Nimmersatt sein würde. Dieser Zeitpunkt war nun gekommen, und er wollte sein Wort einlösen.

 

Unmittelbar unter dem Balkengestänge des Glockenturms stieß der König mit seinem Baumeister auf das verbotene Zimmer. Er erkannte es an den Konturen der Mauersteine, die sich in Farbe und Musterung vom Rest des Gemäuers im Schlosse unterschieden. So wies er seinen Baumeister an, mit seinen Gesellen den Eingang freizulegen und verbot ihnen, das Zimmer zu betreten, ehe er selbst sich darin umgeschaut habe. Es dauerte nur wenige Stunden, bis der Baumeister den Auftrag seines Königs vollzogen hatte. Mit einem flauen Gefühl im Magen, machte der Herrscher sich noch einmal auf den Weg zum Turm, um seine Neugier zu stillen. An Ritterrüstungen und altertümlichen Gemälden vorbei, erklomm er die Wendeltreppe alleine, bis er schließlich vor dem eingeschlagenen Torbogen zum verbotenen Zimmer stand. Warmes Abendlicht drang durch die Bleiglasfenster in einen Raum, der bloß mit einem schwerer Holztisch und einem ledergepolsterten Stuhl möbliert war. Auf dem Tisch lagen ein Buch mit goldenem Umschlag und eine Diamantbrosche von einzigartiger Schönheit. Der Stein war in Platin gefasst und mit einem flachen Schliff versehen, der gar nicht zu seiner Größe und Farbe passen wollte. Anders als bei gewöhnliche Diamanten, konnte man im Kristall rote Adern erkennen, die den Stein in der Abendsonne geheimnisvoll aufblitzen ließen. Der König stellte sich vor den Tisch und starrte ins Innere des Diamanten. Wie in einem Traumgesicht schienen sich die Konturen darin aufzulösen. Aus Wolkennebeln im Inneren des Steins zeichneten sich plötzlich die schönsten Gedanken des Königs ab, formten sich zu Worten, bildeten ein Gedicht und versanken in den Tiefen des Steins im Nirgendwo.

 

Der König verstand nicht gleich, was geschehen war. Er hatte etwas gelesen, das ihm vertraut und fremd zugleich erschien. Offenbar hatte der Stein das Innerste des Königs zum Leben erweckt, in Worte gefasst und in Sphären geschickt, von denen der Herrscher noch nichts ahnen konnte. Ein Gedicht war in den Diamanten geflossen, das die tiefsten Sehnsüchte und Wünsche des Herrschers zu symbolisieren schien. Doch wo das Gedicht geblieben war, begriff der König nicht. Also nahm er das goldene Buch vom Tische und blätterte darin nach einer Antwort. Das Buch trug den Titel: „Das Netz der Worte“. Der König setzte sich und las darin, was es mit der goldenen Brosche auf sich habe. Der Zweck des Diamanten wurde darin in siebenundsiebzig Gedichten auf siebenundsiebzig verschiedene Weisen erklärt. Wundervolle Illustrationen von erstaunlicher Kunstfertigkeit unterstrichen die Inhalte der Gedichte und machten die Worte anhand von Bildern plastischer. Eines der Gedichte sprach den Herrscher besonders an, denn er fand sich sowohl in den Worten als auch in den zugehörigen Bildern wieder. Das Gedicht hieß „Lebensbande“ und ging so:

 

Man sperrte dich im Schlosse ein

Und band dich wohl an Ketten.

Befreie dich im Wortgestein

Und löse deine Fesseln.

 

Dir fehlt, was vielen Großen fehlt:

Die einzig wahre Liebe.

Das ist’s, was dich so drängt und quält,

was ohne Brosche bliebe.

 

Sei ehrlich nun und öffne dich,

beschreibe deine Sehnsucht.

Der Stein weist dir dann hoffentlich,

den Weg aus deinem Bannfluch.

 

Wenn du dies Wort gelesen hast,

erhältst du eine Botschaft.

Blick auf und sei darauf gefasst,

das sie dir keine Not macht.

 

Denk nach und kehre wieder dann

und läutre dein Gedenken.

Damit der Stein dir dienen kann –

den Weg zur Liebe lenkend.

 

Als er die Zeilen gelesen hatte, blickte der König ratlos durch das Bleiglasfenster im Schlossturm. Die bunten Lichter bündelten sich kegelförmig zu einem weißen Lichtpunkt, der direkt auf die Diamantbrosche auf dem Tische fiel. Einen Augenblick beobachtete der König das Spiel der Farben, dann ließ er seine Blicke von den Lichtern führen und schaute nochmals konzentriert in den Diamanten. Wieder formten sich Worte im Inneren des Steins und wieder versanken sie in den Tiefen der Brosche. Doch die Worte stammten nicht vom König selbst, sondern von einer Frau, die das letzte Steingedicht gelesen hatte und nun auf ihre bescheidene Weise darauf antwortete. Nur wenige Sätze waren es, die im Diamanten aufblitzten. Doch sie ergriffen den König so tief, das er sie in seinem Herzen einschloss und zurück in seine Gemächer eilte. Er nahm die Worte mit in seine Schlafkammer und fand in jener Nacht keine Ruhe mehr. War er tatsächlich einem Fluch erlegen? Oder taumelte er trunken auf einem Weg, der in die Liebe führte und ihn aus seiner Einsamkeit erlöste?

 

Die Stunden verstrichen und der König wusste am nächsten Tag nicht, ob er die Erlebnisse des vergangenen Abends geträumt oder tatsächlich erlebt hatte. Er fühlte sich wie verkatert, als habe er am Vorabend ein Fass Rotweins getrunken und kehre nun wieder schmerzlich in die Realität zurück. Den ganzen Tag sinnierte er über seine Wahrnehmungen und fragte sich, ob er dabei sei, seinen Verstand zu verlieren. Das ging so, bis er abends auf dem Korridor seinem Baumeister begegnete, der sich höflich nach dem Turmzimmer erkundigte. In einem Moment erschütternder Erkenntnis wurde dem König klar, dass er nicht alles geträumt haben konnte, was seine Seele so bedrückte. Deshalb brach der Herrscher das Gespräch mit seinem Baumeister jäh ab und eilte zum Flur in den Südwestflügel, um nochmals einen Blick in die Diamantbrosche werfen zu können. Was ihn erwartete, erstaunte den König nicht: Beim ersten Blick in den Diamanten formten sich darin Worte, die von derselben Frau zu stammen schienen, die ihn schon am Abend zuvor so gerührt hatte. Sie stellte sich als Herrscherin über ein nördliches Königreich vor, dessen Name kein Knecht und kein Weiser im Lande Nimmersatt  je gehört hatte. Die Königin hatte ihre Geschichte in die anmutigsten Verse gefasst und verzauberte ihren Leser damit, als hätte sie ihm Traumsand in die Augen gestreut. Voller Sehnsucht nahm der König die Brosche in seine Hände und schaute tiefer in den Diamanten. Eine Träne der Rührung floss ihm über die Wange und benetzte den flachen Schliff des Steins. Er spürte, wie Energie aus den tiefsten Gründen seiner Seele in die Brosche floss und er eigene Verse auf die Reise schickte. Seine Worte versanken wiederum im Nirgendwo, um  zu der geheimnisvollen Empfängerin im Norden zu gelangen.

 

Als der König begriff, was geschehen war, hielt er kurz inne und merkte, dass da nicht nur seine Königin im Netz der Worte war. Nein, da war mehr. Er schloss die Augen und konzentrierte sich hörend und tastend auf das Schmuckstück. Ihm schien, als höre er tausend Stimmen, die zu einem harmonischen Chor verschmolzen, der im Turmzimmer eine wohlige Wärme verbreitete. Gerührt durchlebte er einen Augenblick tiefer Einsicht und spürte, dass seine Königin mit den anderen Stimmen im Einklang war. Minuten der inneren Einkehr verstrichen, in denen der König sich eins mit den Kräften des Universums fühlte. Dann übermannte ihn eine behagliche Müdigkeit, die ihn aufforderte, die Brosche zurückzulegen und sich von einem langen, verwirrenden Tag auszuruhen. In seltsamer Harmonie wandelte er zurück in sein Schlafgemach und fiel sogleich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, der ihn bis zum Nachmittag des nächsten Tages im Bette hielt.

 

In den nächsten Wochen und Monaten nahm der König oft Kontakt mit der geheimnisvollen Königin aus dem Norden auf. Die Diamantbrosche wurde ihm dabei zu einer steten Begleiterin, die in seinem Tagesablauf eine immer größere Bedeutung einnahm. Nach und nach lernte er, wie man die Brosche gebrauchen musste, um möglichst viel seiner Gedanken in die Ferne zu schicken. In jener Zeit merkte der König erstmals, welcher Reichtum in ihm steckte und er lernte, wie er diesen Reichtum zur Freude der Königin einsetzen konnte. So geschah es, dass sich die beiden Menschen durch die Brosche immer näher kamen, bis der Diamant ihnen schließlich erlaubte, auch direkt miteinander zu sprechen. Eines Abends nämlich blitzte statt der Worte der Königin deren Gesicht in dem Kristall auf und der König konnte hören, wie sie mit ihm redete. So unterhielten sich die zwei Herrscher stundenlang über ihr Leben, ihre Sehnsüchte und Erfahrungen, bis sie sich schließlich in einer seltsamen Form der Liebe verloren, deren Kraft keine Entfernungen kannte und die beide Herrscher oft bei Tag und Nacht beschäftigte. Nicht alles ging seinen harmonischen Gang in jener Zeit, denn der König nahm die Königin oft zu sehr in Anspruch, so dass das Netz der Worte als solches durch seine Anwesenheit gestört wurde. Der König merkte, wie der Klang der tausend Stimmen nach und nach eine dissonante Note annahm, die einzig und alleine auf ihn zurückging. Und weil auch die Königin das merkte, erhob sie immer seltener ihre Stimme, schickte keine Gedichte mehr in die Welt hinaus und zog sich immer mehr aus dem Netz  zurück.

 

Den König beschlich tiefe Trauer, als er begriff, was er angerichtet hatte. Deshalb setzte er sich eines Abends vor die Diamantbrosche und erdachte sich Worte des Abschieds, die im Kristall aufleuchteten und in den Tiefen des Steins versanken. Durch seine Gedanken ließ er die Königin wissen, wie sehr er es bedauerte, dass er ihre Stimme habe verklingen lassen. Er übersandte ihr eine Botschaft und wünschte sich aufrichtig, dass alles wieder so werden würde, wie es vor seinem Auftauchen gewesen war. Er fühlte sich schuldig, weil er die Harmonie gestört hatte, die ehemals im verbotenen Zimmer und im Netz der Worte vorherrschte. Deshalb nahm er sich mehr und mehr zurück und sandte immer weniger Gedanken durch die Brosche. Immer seltener dachte er sich etwas Schönes aus und immer seltener drängte er in die Nähe seiner Geliebten. Der Abstand war segensreich. Denn schließlich fand seine Königin ihre Stimme wieder und belebte das Netz der Worte mit neuen Gedanken. Einerseits freute das den König. Andererseits aber stürzte es ihn in tiefe Verzweiflung, weil er erkannte, dass er ein wahrer Störfaktor gewesen war, der sich künftig von der Diamantbrosche fern halten musste. Was so schön angefangen hatte und immer schöner geworden war, musste nun sein Ende finden, damit die Königin im Norden weiterhin ein glückliches Leben führen konnte und die Harmonie des verbotenen Zimmers wieder auflebte.

 

Wochen strichen ins Land, in denen der König die Entwicklungen im Netz der Worte aufmerksam studierte. Nach und nach pendelte sich der alte Zustand wieder ein und die Kontakte zwischen ihm und seiner Geliebten wurden immer seltener. Eines Abends zog sich der König schließlich entmutigt in seiner Gemächer zurück, ohne noch einmal einen Blick in die Diamantbrosche geworfen zu haben. In jener Nacht schlief er unruhig. Er wälzte sich im Bett wie ein Fieberkranker, redete im Schlaf und schwitzte sein Nachthemd durch. Mitten in der Nacht erwachte er fröstelnd, nachdem der kalte Schweiß auf seiner Haut verdunstete und einen eisigen Hauch über seine Sinne legte. Er kroch aus dem Bett, warf sich ein Gewand über die Schultern und eilte unruhig in den Südwestflügel, wo er keuchend die Treppen empor hastete, um nochmals im verbotenen Zimmer nach dem Rechten zu sehen. Hastig ergriff er die Diamantbrosche, umfasste sie mit beiden Händen, schloss seine Augen und lauschte. Erst konnte er nichts hören. Deshalb schaute er noch einmal auf die Brosche und sah, wie sich im Kristall rote Wolken formten, die in einem wohligen Rhythmus pulsierten. Der Diamant leuchtete harmonisch in seinen Händen und erfüllte den Raum mit einem vergeistigten Wohlklang. Der Chor der tausend Stimmen erschallte in einer einzigen Sinfonie der Heiterkeit, die den König bis ins Mark zermürbte. Sein Wunsch war in Erfüllung gegangen: Seine Königin lebte in glücklichster Harmonie mit sich selbst in der Ferne - und er musste sich zurückziehen, um das Glück seiner Geliebten nicht weiter zu stören. Tränen der Verzweiflung ließen ihn erbeben, Tränen, die so tief aus seiner Seele kamen, dass er meinte, alles Sein würde mit ihnen aus seinem Körper gespült werden, um im verbotenen Zimmer zu verdampfen. Fassungslos sah er, wie sich sein Gesicht auf der Oberfläche des Diamanten spiegelte. Anstatt glücklich zu sein, weil seine Wünsche wahr geworden waren, spürte er, wie ihn eine nie gekannte Niedergeschlagenheit übermannte, die alle Hoffnung aus ihm entweichen ließ. Schließlich schleuderte der König die Brosche in einem Anfall der Verzweiflung gegen die Wand und sah, wie der Diamant  in tausend Splitter zerbrach, die im Schein des Mondes am Boden funkelten. Ein fahles Glitzern erhob sich, das ihn noch einmal an den Glanz der vergangenen Wochen und Monate erinnerte. Alles hatte so schön angefangen. Doch dann war das Band des Schicksals gerissen… Gesenkten Hauptes und mit langsamen Schritten begab sich der König zurück in sein Schlafgemach, wobei die Diamantensplitter unter seinen Füßen knirschten. Er hatte lernen müssen, dass Träume umso seltener Wirklichkeit wurden, je schöner sie waren. Und er hatte lernen müssen, dass er nur jene Dinge wirklich erlangen konnte, auf die er ohne Schmerz zu verzichten vermochte. Auf seine Königin wollte er nie verzichten. Aber er hatte ihre Stimme mit seiner Zudringlichkeit erstickt und musste gehen.

 

Am nächsten Tag ließ der König das verbotene Zimmer durch seinen Baumeister wieder verschließen, wie es einst sein Vater hatte verschließen lassen. Insgeheim sammelten sich nachts aber die Kristallsplitter, verflüssigten sich, flossen in der Brosche zusammen und bildeten dasselbe schöne Schmuckstück, das sie gewesen waren, ehe es der König zertrümmert hatte. Nun lag es am König selbst, ob er sich noch einmal auf das verbotene Zimmer einlasse wollte, denn er spürte wohl, das darin alles wieder in Ordnung war. Sollte er sich seine Lehren zu Herzen genommen haben, darf der geneigte Leser wohl davon ausgehen, dass König und Königin trotz allen Schmerzes schließlich doch noch zueinander gefunden haben. Denn die Liebe ist eine so große Kraft, dass sie alle Mauern niederreißt, sobald man sie nur gewähren lässt.

 

“I’m free – I’m free,

And freedom tastes of reality.

I’m free – I’m free,

And I’m waiting for you to follow me.”

(Tommy, The Who)





Keine Kommentare:

Dieses Blog durchsuchen