Königin und Bettler


Es war einmal eine Königin, die lebte im Lande Nirgendwo, in einem Schloss an der Küste. Sie hieß Susanne und war berühmt für ihre Schönheit und Ausstrahlung. Susanne war zwar eine glückliche Königin; aber zuweilen meinte sie, dass ihr tief in ihrem Innersten noch etwas fehlte. Sicher, in ihrem Schloss wimmelte es von Menschen, die ihr wohl gesonnen waren. Dennoch spürte sie zuweilen eine Einsamkeit, die ihr fast den Atem raubte. Ihr Mann war früh gestorben und seither hatte sie niemanden mehr, mit dem sie ihre Geheimnisse teilen konnte. Wenn sie daran dachte, überkam sie eine namenlose Sehnsucht, die sie selber kaum begreifen konnte. In solchen Momenten setzte sie sich an den Schreibtisch und verfasste Gedichte; Gedichte, voller schöner Worte, in denen sie aber nie genau sagte, was ihr fehlte. Sie tat das aus keinem bestimmten Grund. Aber das Schreiben schien ihren inneren Durst zu stillen. 
 
Wann immer Susanne eines ihrer Gedichte beendet hatte, steckte sie es in eine leere Portweinflasche, setzte einen Korken darauf und warf die Flasche ins Meer. Vor ihrem Schreibzimmer thronte nämlich ein Balkon über der Steilküste, der so weit übers Wasser ragte, dass keine der geworfen Flaschen jemals auf den Felsen zerschellte. Alle Flaschen von Königin Susanne wanderten vielmehr über eine warme Meeresströmung nach Süden und verfingen sich dort in der Mündung des Flusses Ararat. Und zwar immer an einer uralten Silberweide vor dem Sandstrand, die sich im Lauf ihres langen Lebens an das einströmende Meerwasser gewöhnt hatte. Die Weide streckte ihre Wurzeln direkt in den Fluss und gab die Flaschen von Königin Susanne nicht mehr frei.

Nun fügte es sich, dass eines Tages ein Bettler an der Weide sein Lager aufschlug und am Ufer des Flusses übernachtete. Er hieß Cleophas und hatte seine Heimat lange verlassen. So lange, dass er manchmal gar nicht mehr genau sagen konnte, woher er stammte und wohin es ihn trieb. In jener Nacht umwölbte ein warmer Sternenhimmel das Nachtlager von Cleophas. Der Mond schien hell und aus dem nahen Auwald drangen die Gesänge von Eulen an sein Ohr. Cleophas konnte deshalb nicht schlafen. So kam es, dass er über sein Leben nachdachte. Tief in Gedanken meinte er plötzlich, er höre das Geräusch von Flaschen, die in den Wogen des Flusses gegeneinander stießen. Darauf erhob er sich und schaute nach, woher die Geräusche kamen. Er schritt das Ufer des Flusses ab, bis er direkt vor den knorrigen Ästen der Silberweide stand. Im Dunkeln schimmerten ihm die Portweinflaschen von Königin Susanne aus dem Fluss entgegen. Sie hatten sich in einem korbartigen Netz aus Wurzeln verfangen und schaukelten in der Strömung. Cleophas ging in die Knie, hielt sich am Stamm der Weide und streckte seine Hand aus, um nach einer der Flaschen zu greifen. Dabei taumelte er und verfing sich in den Zweigen. Er schien gerade ins Wasser zu stürzen, da zog er sich im letzten Moment am Stamm zurück und hielt eine der Flaschen in den Händen. Neugierig begutachtete er seinen Fang und streckte ihn dem Mondlicht entgegen. Fluoreszierend zeichneten sich die Umrisse eines zusammengerollten Blatts Pergament im Glas ab. Cleophas entkorkte die Flasche, entnahm das Blatt und fing an zu lesen.

Die Worte schienen ihm zunächst nichts zu sagen. Aber je öfter er sich die Zeilen zu Gemüte führte, umso mehr entstanden vor ihm Bilder, die mit dem eigentlichen Text nichts zu tun hatten. Er spürte die Gegenwart einer Frau, die ihm so vertraut erschien, wie ein Mensch einem anderen Menschen nur vertraut sein kann. So fing Cleophas eine Flasche nach der anderen auf und las die darin verborgenen Gedichte. Je mehr er las, umso mehr übermannte ihn das Bedürfnis, selber zu schreiben und Gedichte in die Welt zu schicken. Natürlich hatte er weder Papier noch Tinte bei sich. Deshalb bettelte er mehr als eine Woche, um sich kaufen zu können, was er zum Schreiben benötigte. Zum Glück erwiesen sich seine Mitmenschen gerade in jener Zeit als großzügig und schenkten ihm neben etwas Geld auch hin und wieder einen Bissen Brot und einen Schluck Wasser. Denn andernfalls hätte Cleophas wohl nicht mehr die Kraft gehabt, tatsächlich zu schreiben, nachdem er sich erst Schreibzeug erworben hatte.

In seinem ersten Gedicht verarbeitete der Bettler seine Vergangenheit. Dinge, die ihm schon so viele Jahre auf der Seele brannten, schrieben sich nieder wie von selbst. In Gedanken aber war Cleophas immer bei der Verfasserin der Portweingedichte, die ihm seltsam fern und doch so nah schien. Dabei stellte er sich eine arme Frau vor, die an der Küste wohnte und Abends ihre Gedanken voller Tränen ins Meer warf, in der Hoffnung, ein guter Geist würde sie lesen und darauf antworten. Cleophas versuchte zwischen den Zeilen genau das zu tun: zu antworten - schon beim ersten Gedicht. Genau das und noch mehr: Denn gleichzeitig wollte er seinen Schmerz in die Welt tragen, damit er gemildert werde und er wieder bei den anderen Menschen wohnen konnte. Aber das schien ihm eine verwegene Hoffnung zu sein.

Das erste Gedicht war geschrieben und Cleophas überlegte sich, was er damit tun sollte. Schließlich griff er sich eine von Königin Susannes Portweinflaschen, um seine Gedanken darin zu verstauen, wie die Königin es getan hatte. Doch Cleophas war ein bescheidener Mensch; und hätte er die Urheberin der Gedichte gekannt, wäre ihm wohl kein einziges Wort aus der Feder geflossen. Er wäre einfach weiter gezogen, hätte das Gelesene in seiner Erinnerung behalten und sich vorgestellt, wie schön sein Leben hätte sein können, wenn er aus einem anderen Stande entsprungen wäre. So aber wollte er sein Gedicht gerade verkorken, da landete eine weiße Taube auf seinen Schultern und schaute neugierig auf den Brief. Darauf stellte Cleophas die Flasche auf den Kopf und ließ das zusammengerollte Pergament wieder aus dem Flaschenhals gleiten. Er verschnürte das Gedicht mit rotem Garn und hielt es der Taube entgegen. Die Taube aber pickte danach und deutete auf ihre Füße. Schließlich nahm Cleophas das Pergament und band es um ihre Krallen, worauf sie sich in die Lüfte erhob und davon flog.

Danach geschah tagelang gar nichts. Cleophas gewöhnte sich wieder an sein Bettlerdasein, während sein Schreiben und die Gedichte der Königin ihm mehr und mehr aus den Sinnen schwanden. Doch als er eines Abends in Richtung Norden marschierte, überkam ihn plötzlich der innere Drang, zurück zur Silberweide am Fluss Ararat zu gehen, um nachzuschauen, ob dort vielleicht eine weitere Portweinflasche auf ihn wartete. Er zog los und beugte sich wenig später, wiederum bei Mondschein, an der Weide in den Fluss. Und tatsächlich: da schwamm eine Flasche in der Strömung, die Cleophas herausfischte, wie er das mit allen anderen Flaschen vorher getan hatte. Auch sein neuester Fang enthielt ein Gedicht - ein Gedicht von Königin Susanne, die Cleophas für eine verarmte Fischerin hielt. Es trug den Titel „Die weiße Taube“ und ging so:

Weiße Taube am Abendhimmel,
Brachtest mir manch geheimes Wort.
Trüge mich doch mein weißer Schimmel,
Mit dir an den geheimen Ort,

Den Ort, an dem die Poeten wohnen,
Die mit Gedichten mein Herz belohnen,
Er wäre mir ein trauter Hort.

Weiße Taube bring’ neue Zeilen,
Diene als Botin mir in der Nacht.
Mag auch Sehnsucht in mir verweilen,
Gäb’ ich doch auf deine Botschaft acht.

Cleophas war verwirrt. Hatte die Taube sein Gedicht etwa an die Verfasserin der Portweingedichte ausgeliefert? War das alles nur Zufall? Hatte er vielleicht zu viel getrunken? - Er kannte die Antwort nicht. Aber er wollte wissen, ob er wieder ein passendes Gedicht in der Portweinflasche fände, wenn er sich noch einmal hinsetzte und schriebe. Und so zog er ein neues Blatt Pergament aus seinem Rucksack und die Worte stürzten aus seiner Feder wie aus einem Wasserfall. Schließlich entstand eine Ode von sieben Sonetten, die an die Verfasserin der Portweingedichte gerichtet war. Kaum hatte Cleophas das letzte Wort geschrieben, spürte er wieder die Krallen der weißen Taube auf seiner Schulter. Und so verschnürte er sei Gedicht mit einem roten Faden und band es der Taube an die Krallen. Sie flog davon und verschwand zwischen den Wolken.

Cleophas verharrte nun bei der alten Silberweide so lange er nur konnte. Denn er wollte keinesfalls, dass die Gedichte der Portweinpoetin in fremde Hände fielen. Nur wenn er Hunger hatte, ging er zum Betteln in die Stadt, während er seinen Durst an der Mündung des Flusses stillte. Der geneigte Leser mag schon erahnen, was in den folgenden Wochen geschah: Cleophas schickte Gedichte und Königin Susanne antwortete ihm mit Reimen aus der Portweinflasche. Nach und nach genügten den beiden aber die verschlüsselten Botschaften der Gedichte nicht mehr und sie fingen an, sich auch persönliche Dinge zu schreiben. Sie schrieben sich, was sie dachten, was sie fühlten und was sie miteinander verband. So entstand eine ganz besondere Form von Liebe, die Cleophas vorher nicht für möglich gehalten hätte. Er begann in romantischen Träumen zu schwelgen und fühlte sich zu seiner „verarmten Fischerin“ mehr und mehr hingezogen. Schließlich fragte er sie einem Brief, ob sie ihm schreiben könne, wie sie ihr Leben verbringe und wovon sie lebe. Königin Susanne antwortete prompt und gab sich als seine Königin zu erkennen. Darauf wurde Cleophas aschfahl und ihm war, als ob all sein Blut von einem Moment zum anderen in seinen Magen sackte. Er taumelte und setzte sich ans Flussufer, wobei er mit dem Rücken gegen die alte Silberweide lehnte. Fassungslos schaute er in den Sternenhimmel und merkte, wie all seine romantischen Gedanken von den weiten des Universums absorbiert wurden. Antworten wollte er trotzdem, denn schließlich schuldete er das seiner Königin; denn Cloephas war zwar ein Bettler, aber loyal. 
 
So schrieb er Susanne und gab sich als der Bettler zu erkennen, der ihre Gedichte am Fluss Ararat aus dem Wurzelstock einer alten Silberweide gefischt habe. Er rechnete nicht mit einer Antwort; doch die Königin ließ ihn schon zwei Tage später wissen, dass er sich bei ihr einfinden solle. Cleophas begab sich also zum Küstenschloss, klopfte an die Pforte und begehrte Einlass. Susanne hatte ihre Wächter vorher angewiesen, jeden Bettler bei ihr vorzulassen, der in den nächsten Tagen nach ihr verlange. So begab es sich, dass Cleophas und seine Königin einander schweigend gegenüber traten und sich gegenseitig musterten.

Susanne stand da und war eine Schönheit, wie sie nur ein guter Gott erschaffen konnte. Sie trug halblanges, lockiges Haar, das ihre Züge wie Arabesken umrankte. In ihrem Gesicht leuchteten grüne Augen wie Smaragde, ihr Mund zeichnete sich in sanften Linien von ihrer seidenen Haut ab. Und ihre Nase war so sinnlich geformt, wie Cleophas das bei noch bei keiner anderen Frau gesehen hatte. Noch mehr als das Gesicht seiner Königin faszinierten den Bettler allerdings deren anmutige Bewegungen und die Haltung ihrer Hände. Und so neigte er sein Haupt nach unten und wandte sich von ihr ab. 
 
Susanne beobachtete ihren Gast. Offenbar hatte er sich vor seinem Besuch wohl noch leidlich gewaschen und rasiert. Er trug zottiges, langes Haar, das immer noch verklebt wirkte. Seine Haut war vom Wetter gegerbt und voller Narben. So stand er da, offenbar stark verunsichert, und nahm eine immer demütigere Haltung ein. Susanne sagte nichts und ließ ihn in jeder seiner Gesten gewähren. Auf den ersten Blick war der Bettler eine ziemlich armselige Erscheinung. Doch Susanne erkannte in seinen Augen eine Tiefe, zu der sie sich sehr hingezogen fühlte. Beim Betrachten des Mannes verlor sie sich in Gedanken, die kaum greifbar waren. Wie sollte sie den Bettler behandeln? Was sollte sie zu ihm sagen? War er wirklich jener Brieftaubenpoet, der ihr oft so schöne Momente an einsamen Abenden geschenkt hatte? In derlei Gedanken verstrickt, bemerkte Susanne kaum, wie sich Cleophas von ihr abwandte und den Kronleuchtersaal verließ, in dem sie stand. Sie schaute ihm hinterher und ließ ihn ziehen, ohne vorher auch nur ein Wort mit ihm gesprochen zu haben. Cleophas verschwand – und scheinbar war es damit getan. 
 
Nach der Begegnung zog sich die Königin in ihr Schreibzimmer zurück. Sie wies ihre Diener an, dass man sie keinesfalls stören möge. So verbrachte sie Stunden hinter verschlossenen Türen und ihr ganzer Hofstaat fragte sich, was die Königin zu einem so eigenartigen Verhalten trieb. Nie zuvor hatte sie Wärter vor ihrem Schreibzimmer abgestellt, die ihre Hellebarden über der Tür kreuzten. Nie zuvor hatte sie mit einer solchen Vehemenz absolute Stille eingefordert. Und nie zuvor hatte sie sich von ihren Dienern mit einem so abwesenden Blick ins Schreibzimmer verabschiedet. Da war kein Lächeln auf ihrem Gesicht wie sonst; da waren keine Freundlichkeiten und keine höfischen Etiketten wie sie ihre Majestät normalerweise so vollkommen ausstrahlte. Als die Königin nach Stunden immer noch nicht wieder aus ihrem Zimmer zurückgekehrt war, wagte sich der Hofmarschall schließlich zum Südwestturm, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Er ging gerade auf die gekreuzten Hellebarden zu, als Susanne die Tür aufriss und ihn fordernd zu sich winkte. Der Hofmarschall trat ins Schreibzimmer und die Königin erteilte ihm Befehle.

Danach durfte kein Bettler mehr das Land verlassen, ohne dass die Königin persönlich seine Abreise genehmigte. Susanne selber begab sich, einer Eingebung folgend, mit ihrer Kutsche nach Norden und hielt an einer Zollschranke in den Bergen Ausschau nach ihrem Bettler. So vergingen Tage, in denen die Königin sich immer eindringlicher und voller Liebe an die Augen des Cleophas erinnerte. In ihrer Fantasie entstand ein Bild von ihrem Bettler, das sich auf fabelhafte Weise aus dem zusammensetzte, was sie von ihm gelesen und gesehen hatte. Dieses Bild gefiel der Königin und nach und nach war sie sich sicher, dass es sein wahres Wesen zeigte. Mit den Tagen spürte sie die Gegenwart von Cleophas immer mehr, bis sich eines Tages am Horizont eine Gestalt abzeichnete, die in gebückter Haltung auf die Zollschranke in den Bergen zu marschierte. Weil er bei seinem Marsch immerzu auf den Boden blickte, bemerkte Cleophas seine Königin erst, als er ihr direkt gegenüber stand. Sie versperrte ihm den Weg mit ihrer Kutsche, und als sie ihn sah, nahm sie ihn bei den Händen und entführte ihn ins geheimnisvolle Reich der Liebe. Seitdem war im Lande Nirgendwo niemals wieder von Cleophas, dem Bettler, die Rede. Denn der Bettler verwandelte sich in Gegenwart der Königin zu einem Monarchen, zu dem alle aufschauten und den das Volk des Landes überall zu schätzen wusste. Und all die Märchen, die sich Susanne und Cleophas in ihren Gedichten ausgemalt hatten, gingen auf liebevolle Weise in Erfüllung. So schön war dies, dass sie vom Tage ihrer zweiten Begegnung an glücklich und zufrieden miteinander lebten. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Keine Kommentare:

Dieses Blog durchsuchen