Dineja, ein philosophisches Märchen





Im Sonnenland, wo die Flüsse Zenoj und Radamant ineinander münden, stand einst das Schloss der jungen Herrscherin Solveja. Ihr Königreich war eine weite Einöde, gesäumt von erloschenen Vulkanen, heißen Quellen und Steinwüsten. Das Land vermochte nur wenige Untertanen zu ernähren, weil der Boden steinig und unfruchtbar war. So unfruchtbar, dass die Bevölkerung nach und nach in die Grenzregionen abwanderte, wo es noch Kiefernwälder und Äcker gab. Hier konnten die Menschen sich ernähren, hier konnten sie einander lieben, hier gründeten sie ihre Familien, zogen ihre Nachkommen groß und pflegten ihre Kultur. Dieses Leben spielte sich weit von Solvejas Schloss ab, denn ihre Heimstatt lag im Zentrum des Sonnenlands, von Freund und Feind gemieden, Im Schatten der Vulkane Trak und Enoll. Der Hofstaat der Herrscherin war klein und überschaubar, weil die wenigen Ackerflächen nur eine handvoll Menschen ernähren konnten. Wollte man aus den Randgebieten Nahrung heranschaffen, war das nur möglich, wenn man die Früchte vorher trocknete und in Zucker konservierte. So verkehrte jeden Monat eine Kutsche zwischen den Drejas, den Randbezirken, und Soldevara, dem Amtssitz der Herrscherin. Die wenigen Transporte vermochten das Leben bei Hofe aufrecht zu erhalten, aber sie reichten nicht aus für königlichen Prunk und Luxus. So lebte Solveja eher wie eine Bäuerin als eine Monarchin und man beließ sie in ihrem Glauben, im Lande etwas zu bedeuten. 
 
Solveja war eine bescheidene und einsame junge Frau, die bei Hofe niemanden hatte, mit dem sie ihre Gedanken teilen konnte. Abgeschieden vom Rest der Welt, hatte sie seit Kindertagen eine Vorliebe für Bücher entwickelt. Das lag nahe, weil die Bibliothek ihres Herrschersitzes bis weit über die Landesgrenzen als eine der prachtvollsten und schönsten galt. So waren die wenigen Besucher, die, abgesehen von Versorgungskutschen, in Soldevara verkehrten, meist gebildete Leute, die auf der Suche nach bibliophilen Meisterwerken waren: Professoren und Künstler, Dichter und Denker, Staatsmänner und Philosophen waren darunter. Aber alle waren sie in der Bibliothek derart beschäftigt, dass die Herrscherin kaum jemals einen Ansprechpartner fand, der ihr mehr bieten konnte, als den Austausch von Höflichkeiten. Solveja, die aus Büchern um den Reichtum der Welt wusste, wurde darüber schwermütig und traurig. Oft fühlte sich in die Ferne gezogen, wollte aus ihrem goldenen Käfig ausbrechen und die Grenzen ihres Staates überwinden. Weil man sie aber stets in dem Glauben gelassen hatte, eine wichtige Person zu sein, scheiterten all ihre Vorsätze an ihrem Verantwortungsgefühl: Als Herrscherin durfte sie Solvedara nicht verlassen! Das war schon ihren Vorgängerinnen und Vorgängern eingebläut worden - und das musste auch für sie gelten. 
 
Der einzige Ausweg aus der Misere Solvejas war das Feuer Dineja, das Dimensionen überwinden konnte und schon manchen Herrscher vor Solveja in seiner Glut verschluckt hatte. Im Land wurde viel über jenes Feuer gemunkelt: Eine grüne Säule sollte es sein, eine Säule, die glänzte wie ein Kristall, in der es blitzte und funkelte, in der Gewitterstürme tobten, sich Wolken verdichteten, in der das Weltall sich spiegelte. Diese Säule, sagte man, befinde sich in einem geheimen Raum der königlichen Bibliothek, den nur die Herrscher kannten und zu dem kein Fremder jemals Zutritt hatte. Die Gerüchte um das seltsame Feuer waren entstanden, weil in der Geschichte des Sonnenlandes mehrere Herrscher von einem Tage zum anderen verschwunden und nie wieder aufgetaucht waren. Weil das Sonnenland von je her als kahle Einöde galt, war kein Untertan je auf die Idee gekommen, dass etwas am Verschwinden der Herrscher suspekt sein könne. Niemand wollte deren Aufgabe übernehmen, niemand in ihre Rolle schlüpfen. Nicht einmal innerhalb Solvejas Familie gab es Rangeleien dieser Art. Das Königsamt wurde von Generation zu Generation an die Erstgeborenen übertragen, unabhängig vom Geschlecht und ohne Unstimmigkeiten. Im Gegenteil, die jüngeren Geschwister freuten sich, wenn der Kelch des Herrschens an ihnen vorüber ging. Denn das Leben bei Hofe war kärger als in den Randbezirken und wer dem Hofstaat vorstand, hatte keine Chance auf ein glückliches und erfülltes Leben unter Menschen. 
 
Obwohl viele Untertanen im Lande das glaubten, war das Feuer Dineja keine Legende. Vielmehr konnte man die königliche Bibliothek auf zwei verschiedene Weisen betreten. Der amtierende König gab dieses Wissen jeweils an seinen Nachfolger weiter, damit die Tradition gewahrt war und sich dem Verzweifelten eine Möglichkeit zur Flucht erschloss. Die Bibliothek war gebaut, wie eine umgekehrte Pyramide, deren Stockwerke sich von unten nach oben verbreiterten. Auf den Emporen gab es steinern Tische und Bänke, die mit roten Samtkissen gepolstert waren. Von den Tischmitten aus führten jeweils Röhren tief ins Erdreich, über welche die Hitze des Vulkanbodens in den Raum gelangte. Eine raffinierte Mechanik sorgte dafür, dass die Temperatur im Sommer wie im Winter konstant bei 20 Grad lag. Stieg die Wärme, hoben sich die Dachfenster, sank sie, regulierten Ventile den Luftzustrom aus den Röhren. Über die Stockwerke wölbte sich eine pupillenförmige Glaskuppel, über die Tageslicht den Raum flutete. Nachts zog sich Solveja oft in das unterste Stockwerk zurück, breitete eine Decke über die Holzdielen und legte sich unter den Sternenhimmel, der durch die Kuppel näher erschien als im Freien. Wie eine Vergrößerungslinse verzerrte das Glas die Sterne und spaltete ihr Licht an den Rändern in Spektralfarben auf. Das war ein wundervolles Schauspiel, das sich für Solveja darstellte, als führten die Lichter für sie einen Tanz auf. Die Herrscherin konnte sich bei diesem Anblick ganz in sich verlieren und vergaß dabei stundenweise ihre Not. 
 
Nur sehr selten wagte Solveja dagegen, die Bibliothek aristokratisch zu betreten, wie es sie ihr Vorgänger, König Darius, gelehrt hatte. Das Portal zur Bibliothek bestand aus zwei goldverzierten Flügeltüren, auf denen Muster aus Edelsteinen aufblitzten. Wer den Sinn dieser Muster verstand – und das war immer nur der jeweilige Herrscher – konnte die Bibliothek beim Zutritt in eine andere Dimension verlegen, indem er die Steine in einer bestimmten Reihenfolge berührte. Das ging zu jeder Tages- und Nachtzeit, und zwar unabhängig davon, ob in dem Kuppelsaal gerade Betrieb herrschte oder ob er verlassen war. Betrat der Herrscher dann den Raum, fand er sich in völliger Dunkelheit wieder, die nur von einem fluoreszierenden Leuchten im Zentrum durchbrochen wurde. Dieses Leuchten erstreckte sich zylinderförmig vom Boden aus und verlor sich in einem dunklen Nichts, das den Betrachter ratlos und schockiert zurückließ. Der Raum erschien grenzenlos und ewig durch dieses Phänomen. Und wenn man nach oben schaute, erschrak man über die banale Vergänglichkeit seiner selbst. Deshalb warnten die Herrscher einander vor dem Himmelsblick und lehrten ihre Nachfolger den rechten Umgang mit Dineja: Um die Lichtsäule war ein Muster aus konzentrischen Kreisen aufgezeichnet, die vor der Lichtquelle warnten und verschiedene Stufen der Einsicht symbolisierten. Am äußersten Rand herrschte Gleichgültigkeit. Wer von dort aus in das Feuer blickte, fühlte sich gelassen und stark genug, um allen Wechselfällen des Lebens zu trotzen. Je weiter der Neugierige jedoch zu den inneren Kreisen trat, umso intensivere Gefühle hatte er zu durchleben und umso größer war seine Sehnsucht, das Sonnenland und den Herrschersitz zu verlassen. Die Stufen führten über den äußersten Kreis zum Nachdenken, in die Melancholie und von dort aus zu den Sinnfragen und zur Liebe. Oft hatte sich Solveja bis zur Liebe vorgewagt und war vor Sehnsucht nach dem Licht beinahe vergangen. Allerdings war der letzte Kreis zwei Meter breit. Und wer vom Rande aus näher in die Mitte trat, den umfing eine Hitze, als drohte ihn das fluoreszierende Licht zu versengen. Einerseits wuchsen im Betrachter dessen Liebe und Sehnsucht. Andererseits lehrte der Kreis die Seinen das Fürchten. Denn die Liebe, das merkte der Neugierige: die Liebe würde nur derjenige erlangen, der bereit war, sich am Feuer zu verbrennen. Dineja hatte sich oft weit vor gewagt und tiefe Blicke in die Feuersäule geworfen. Doch nie hatte sie sich überwinden können, den entscheidenden Schritt zu tun. 
 
So vergingen Jahre, in denen sich die Herrscherin immer näher an Dineja herantastete. Schritt um Schritt, Zentimeter für Zentimeter lernte sie die Hitze des Feuers zu ertragen. Oft hielt sie den Widrigkeiten mehrere Minuten lang stand, weil sie meinte, in der Feuersbrunst Bilder zu entdecken. In solchen Momenten schien das Feuer aus einer grünen Flüssigkeit zu bestehen, von deren Grund Gasblasen aufstiegen. Die Blasen bildeten Wolken, die zu einer Spirale zusammenflossen, in der sich Solvejas Gesicht widerspiegelte. Aber nicht nur Solvejas Gesicht war da zu erkennen, sondern auch die Umrisse eines Mannes, der langsamen Schrittes auf sie zu ging. Sie nahm ihn als Schattengestalt wahr, die wieder und wieder verschwand, als sie meinte, der Mann rufe ihr aus dem Feuer ihren Namen zu. In jenen Momenten verspürte Solveja die Hitze deutlicher und drohender als sonst. Sie fühlte, wie sich in ihrem Gesicht Brandblasen bildeten, wie das Blut an den Schläfen zu kochen begann und wie ihre Hände und Füße anschwollen. Schmerzen, stechende Schmerzen führten sie dann jedes Mal zurück zu den äußeren Kreisen - bis zum Kreis der Gleichgültigkeit, der die körperlichen und seelischen Symptome sogleich tilgte. Natürlich waren die Schmerzen ebenso illusorisch wie die Brandblasen in Solvejas Gesicht. Denn Dineja war ein magisches Feuer, das tief verborgene Empfindungen zu Tage brachte: Als Schmerzen der Furcht, als das Herzklopfen Verliebter, als Trauer des Einsamen, als Eitelkeit des Spötters und Vieles mehr. Wer die Zeichen des Feuers richtig zu deuten wusste, konnte dabei einiges über sich erfahren. Solveja hatte sie verstanden und hielt sich deshalb mehr und mehr von der mystischen Dimension der Bibliothek zurück: Das Feuer verlangte von ihr, in seine Mitte zu treten, um dort jene Liebe zu erfahren, die sie in ihrem Leben so vermisste. Dazu musste sie aber glauben können, dass die Flammen sie nicht verzehren würden, sobald sie sich ihnen weiter näherte. Wie aber sollte sie darauf vertrauen, wenn sie schon in einem halben Meter Abstand derartige Qualen durchlitt? Vielleicht war es besser, die Liebe und Dineja zu vergessen? Vielleicht sollte sie sich nur noch an dem Sternenhimmel laben, der nachts unter den Kuppeln der realen Bibliothek prangte? Solveja war ratlos… 
 
Wochenlang zog sich die Herrscherin vor dem magischen Feuer zurück. Anfangs schien es, als würde sie dabei ihre kindische Sehnsucht nach der Liebe verlieren. Mehr und mehr fand sie in den Alltag zurück, las Bücher, kümmerte sich um die Zucht von Obst und Gemüse und schrieb Briefe an ihr Volk, die in den Randbezirken harmlose Gesetze proklamierten. Was Solveja nicht wusste, war, dass keine ihrer Anordnungen im Sonnenland jemals beachtet wurde. Entweder stimmten sie mit der Kultur der Randbezirke überein oder man ignorierte sie, als wären sie nie erteilt worden. Die vermeintlich edle Aufgabe, die unsere Herrscherin an ihrem Hof gefangen hielt, war also in Wahrheit nichts anderes als eine Illusion, auf deren Kosten die Herrscherin ihr Glück stundete. Niemand ließ sie das wissen noch ahnen. Denn das Volk des Sonnenlandes liebte seine Königin und keiner wollte daran etwas ändern. Die Monarchie strahlte einen Glanz aus, auf den man in dem kargen Staat nicht verzichten wollte - zumal die Monarchin niemandem schadete und vielfachen Anlass zu Spekulationen über das Hofleben bot. Unterhaltsam und anregend war das - als ob ein Stück des Märchenreiches bis in die Drejas ausstrahlte. 
 
Die Monate verstrichen und Solveja spürte, wie in ihrem Inneren nach und nach etwas zu Bruch ging. Zuerst waren das nur körperliche Reize: Ein stetes Zwicken an der linken Niere, ein hohles Gefühl in der Herzgegend, zunehmende Appetitlosigkeit und ein seltsames Brennen im Kopf. Ihr Leibarzt untersuchte sie, doch er konnte keine Ursache für ihre Beschwerden finden. Nach und nach gesellte sich aber eine Schwermut zu den Symptomen, die den Mediziner aufhorchen ließ. Sehr behutsam erkundigte er sich bei Solveja, ob sie in den letzten Wochen etwas in ihrem Leben geändert habe. Sie wusste gleich, was der Doktor meinte, aber sie verleugnete die Erkenntnis vor sich selbst. Am Ende stand sie ausgehungert vor dem Spiegel in ihrem Salon, mit tiefen Furchen in der Stirn, eingefallenen Wangen und einer Haut, die sich wie Pergament über ihre Knochen spannte. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und ihr Leben schien wie durch ein Leck aus ihrem Körper zu sickern. Der Leibarzt gab seiner Königin nur noch wenige Wochen Lebenserwartung, sofern sich an ihrem Zustand nichts ändern sollte. Da tat die Herrscherin, was geboten war, und bestellte ihren ältesten Bruder Zophas von den Drejas zum Schlosse. Widerwillig folgte er dem Ruf seiner Schwester und ließ sich von ihr in die Amtsgeschäfte der Sonnenlandmonarchie einweisen. Nur wenige Tage beanspruchte dieses Geschäft und am Ende standen die beiden Geschwister vor dem Tor zur Bibliothek, wo Solveja ihrem Nachfolger zeigte, wie die Paralleldimension zum magischen Feuer Dineja zu öffnen sei. Beeindruckt ließ Zophas sich den Mechanismus erklären und folgte der Herrscherin in die Finsternis des magischen Raumes. Sie erklärte ihm die konzentrischen Kreise, warnte den Bruder vor Blicken in die Höhe und schilderte ihm, was er zu erwarten hatte, wenn er sich dem magischen Feuer zu weit näherte. Zophas nahm das nicht weiter ernst und ging unbefangen bis zum innersten Kreis, ohne dass ihm irgendetwas anzumerken war. Verständnislos wandte er sich zu seiner Schwester und fragte, was sie mit all den Schmerzen gemeint habe. Da fiel es der Herrscherin wie Schuppen von den Augen und sie gewahrte, dass ihr Bruder keines der Gefühle je hatte missen müssen, die ihr so sehr fehlten. Denn er war verheiratet, liebte Frau und Kinder, lebte ein reiches und erfülltes Leben und würde das auch hier am Hofe tun. Helle Aufregung ergriff sie. Eine so intensive Aufregung, dass ihr schwacher Körper darüber beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Mit einer Handbewegung und einem flehenden „geh!“ wies Solveja ihren Bruder aus der mystischen Bibliothek. Er schaute sie fragend an, verharrte einen Moment und tat dann, wie ihm geheißen worden war. Seine Schwester musste sterben, das war klar. Und wenn nun ihr Zeitpunkt gekommen sein sollte, wollte er ihren Abschied nicht noch schwerer machen. 
 
Als sich das Tor zur magischen Dimension hinter Zophas geschlossen hatte, ging die Herrscherin barfuss, Schritt um Schritt auf das magische Feuer zu. Dieses Mal mit dem eisernen Willen, ihren Weg ganz bis zum Ende fortzusetzen. Erstaunlicherweise spürte sie dabei weder Schmerz noch Furcht, denn sie vertraute dem Feuer ihr Leben mit all seinen Höhen und Tiefen an. Nicht einmal, als sie in den innersten Kreis erreichte, spürte sie etwas von der Hitze, die sie vormals wieder und wieder abgeschreckt hatte. Im Gegenteil, je näher sie Dineja kam, umso mehr schien sie von neuen Kräften beseelt und umso weniger hing sie an ihrer alten Existenz fest. Im Abstand von wenigen Zentimetern konnte sie ihre Stimme aus dem Feuer vernehmen. Dabei blickte sie in das Gesicht eines Mannes, der ihr in ihren Träumen oft erschienen war. Nur hatte sie sich nie an jene Träume erinnern können und deshalb nichts von seiner Existenz gewusst. Er rief sie ein letztes Mal bei ihrem Namen, dann streckte die Herrscherin ihre Hand aus, griff in das Feuer und beobachtete, wie sich darin eine zweite Hand bildete, welche die ihre ergriff und Solveja fort führte. Kein Schmerz störte ihre reine Liebe, kein Zweifel brachte sie ins Schwanken, während sich Dineja wie ein seidener Vorhang um ihren Körper schloss, der das Tor in eine fremde Welt öffnete. Was allerdings hinter dem Vorhang geschah, weiß niemand…

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