Das siebte Märchen


Im Lande Prosaria lebte einmal eine Königin namens Naxyria, deren einzige Leidenschaft die Literatur war. Meist widmete sie sich dem Geschäft, das der Staat von ihr verlangte. Aber in freien Stunden, wenn alle gesellschaftlichen Verpflichtungen erfüllt waren, hielt sie sich am liebsten in ihrer Bibliothek auf und schmökerte in den Büchern der Dichter und Denker ihrer Heimat. Manchmal stieß sie dabei auf Texte, die ihr besonders gefielen. Entweder sie schrieb dem Autor dann einen Brief oder sie lud ihn gleich zu sich ins Schloss, um sich von ihm vorlesen zu lassen. Jeder Schriftsteller im Lande wusste um die Vorlieben der Königin, deshalb versuchten die meisten von ihnen, so zu schreiben, wie es ihr gefiel. Im Lande Prosaria galt es nämlich als große Ehre „vorgeladen“ zu werden, und eine Vorladung bei Königin Naxyria war die Krönung einer jeden literarischen Karriere. Die Bücher der glücklichen Autoren verkauften sich hernach besser und ihre Namen verbreiteten sich wie ein Flächenbrand im Lande. Deshalb gab es auch nie einen Schreiber, der die Ehre eines königlichen Vortrages abgelehnt oder belächelt hätte. Alle waren sie stolz, wenn Naxyria sie erwählte, nicht zuletzt deshalb, weil sie eine sehr schöne Frau war, mit wunderschönen, leuchtend grünen Augen, die auch noch die unromantischsten Philosophen ins Schwärmen brachte. Insgeheim erhoffte sich wohl mancher Dichter, nicht nur als Poet, sondern auch als Mann ihre Gunst zu gewinnen. Denn seit dem Tod des Königs lebte Naxyria alleine und hatte nichts von ihrer einstigen Attraktivität verloren. Sie war wie eine Rose, die in einer dunklen Kammer verdorrte, durch die nur selten ein Lichtstrahl drang. All ihre Schönheit schien an die Einsamkeit verschwendet, eine Einsamkeit, die gerade die Dichter nicht akzeptieren wollten, weil Schönheit und Tiefsinn Tugenden sind, die geteilt und gelebt werden müssen, damit sie nicht verloren gehen. So war Königin Naxyria das geheime Ziel von nicht wenigen unter ihnen.
 
 
   An einem finsteren Herbstabend entdeckte sie ein Buch, das sie besonders faszinierte. Es trug den Titel „Worte eines Sprachlosen“ und enthielt eine Sammlung von siebenundsiebzig bebilderten Gedichten. Naxyria begriff nicht gleich, was sie daran so begeisterte. Aber je mehr sie sich mit den Texten auseinandersetzte, umso stärker erweckten sie in ihr den Eindruck, als müsse sie sie selbst geschrieben haben. Ihre Persönlichkeit, ihre Denkweise, ihre innersten Antriebe spiegelten sich in den Gedichten wieder; sie fühlte sich auf eigenartige Weise demaskiert und vorgeführt, gerade so, als ob der Dichter in ihr Innerstes geblickt und es nach außen gekehrt habe. Nachdem sie das Buch gelesen hatte, kreisten ihre Gedanken zwei Tage lang immer um dasselbe Thema: Sollte sie Kontakt mit dem Schreiber aufnehmen oder war es besser, seine Nähe zu meiden? Sie fühlte sich gleichzeitig zu ihm hingezogen und abgestoßen. Wer mochte der Mann sein, dessen Worte sie so rührten? War er ein Spion aus einem feindlichen Königreich? War das Buch geschrieben worden, um Naxyria in seine Hände zu treiben? Sie wusste es nicht.
 
 
   Am Ende entschied sich die Königin, dem Dichter zu schreiben. Sein Name erschien unwirklich, als handelte es sich um ein Pseudonym oder einen Künstlernamen: „Mikacha Bardo“. Wer sollte so heißen? Sie musste lachen, als sie ihren Brief adressierte; lachen, weil sie eine Vorliebe des Dichters für skurille Scherze erahnte; lachen, weil sie  verrückt genug war, einem solchen Menschen zu schreiben; und lachen, weil ihr nur wenig eingefallen war, obwohl sie nie ein Buch mehr beschäftigt hatte als dasjenige Bardos. Trotz allem schrieb sie dem Dichter ernst und voller Hochachtung. Ganz bewusst vermied sie dabei jedes Wort zu ihrer Person, weil sie befürchtete, den Schreiberling damit zu verschrecken. Er war nämlich zweifellos anders, als seine Kollegen und sie hatte das Gefühl, dass es nicht leicht sein würde, mit ihm in Kontakt zu treten. Als Königin verfügte sie natürlich über etliche Pseudonyme, hinter denen die sich verbergen konnte. So wählte sie eines davon und übergab ihren Brief an einen Postboten. Nur drei Tage sollte es dauern, bis sie eine Antwort bekam. Warmherzig und einfühlsam schilderte ihr der Dichter, was ihm durch den Kopf gegangen war, als er ihren Brief gelesen hatte. Kurz gesagt, ging es ihm genauso wie seiner Herrscherin – die Beiden hatten sich gefunden und erkannt, ohne einander jemals gesucht zu haben! 
 
 
   In den nächsten Wochen und Monaten verfestigte sich der Kontakt zwischen Königin und Dichter mehr und mehr. Anfangs tauschten sie nur kurze Nachrichten aus, später wurden daraus längere Briefe, in denen sie sich gegenseitig Auszüge aus ihren Lebensgeschichten erzählten. Es dauerte nicht lange, da befiel den Dichter ein seltsames Verlangen nach der Königin - ein Verlangen, das sich durch den Briefkontakt alleine nicht erklären ließ. Seiner Leidenschaft erlegen, fing er an, Liebesgedichte zu schreiben, die Naxyria am Grunde ihres Herzens berührten. Brief für Brief kamen sich die beiden näher, Gedicht für Gedicht öffneten sich ihre Herzen und Stunde für Stunde erkannten sie immer deutlicher, dass da etwas in der Luft lag, das mehr als bloße Freundschaft und Hochachtung war. Da war eine besondere Form der Liebe entstanden, von der die meisten Menschen nichts wussten. Eine Form der Liebe, die sich alleine auf Gedanken stützte und deshalb reiner war und tiefer als alles ging, was Königin und Dichter jemals erlebt hatten. Weil dem so war, verrieten sich die Beiden, wer sie wirklich waren und vertrauten sich ihre innersten Geheimnisse an. Für Bardo war das ein schwerer Schlag, denn er hatte in seinen kühnsten Träumen keine Königin erwartet. Er fühlte sich zu gering für solchen Umgang, zu gewöhnlich, zu gemein, zu schlicht. Sein Stand entsprach nicht demjenigen seiner Herrin, und er fühlte sich nicht wohl, als er die Kluft in ihrer Herkunft erkannte. Mit welchem Recht durfte ein unbedeutender Dichter eine Königin lieben? Das ging gegen die Natur, die Sitte und den Anstand! Er wusste nicht, wie er Naxyria seine Bedenken anvertrauen sollte. Deshalb schrieb er ihr ein Märchen mit dem Titel „Königin und Bettler“, in dem er seine Beziehung zu ihr gleichnisartig aufarbeitete. Wie in jedem richtigen Märchen fanden die Liebenden am Ende zusammen. Aber Bardo glaubte nicht an ein solches Ende, nicht im wirklichen Leben, und er hoffte, dass Naxyria das erkannte und ihn von seinen Schmerzen erlöste. Erlösung konnte in diesem Fall aber nur in der Trennung liegen. Und das schmerzte.
 
 
   Die Königin ignorierte alle Einwände des Dichters und sah in dem Märchen mehr einen Liebesbeweis als eine Warnung. Sie schrieb nun ihrerseits romantische Gedichte und ließ sie ihrem Brieffreund auf dem Postwege zukommen. Das vertiefte die Zuneigung zwischen den Beiden, und so wuchs das Verlangen, sich bald von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten. Einer inneren Eingebung zufolge „wusste“ Bardo, dass er mindestens zwei weitere Märchen schreiben musste, ehe die Zeit für eine Begegnung reif war. So schrieb und schrieb er, bis am Ende nicht drei, sondern fünf Märchen entstanden waren und er sich auf Wunsch der Königin zu ihrem Schloss begab. Einer inneren Stimme folgend, hatte der Dichter Naxyria zuvor schon angekündigt, dass zwei weitere Märchen folgen mussten, um den Zyklus zu komplettieren. Das sechste hatte er bereits angefangen, für das siebte fehlte ihm noch jede Idee. 
 
 
   An einem regnerischen Apriltag trafen sich Königin und Dichter schließlich vor einer Herberge nahe dem Herrschersitz Naxyrias und lernten einander kennen. Die Begegnung verlief atemberaubend und gefühlvoll. Es dauerte keine zwei Stunden, da lagen sie sich in den Armen, küssten einander und sahen sich in die Augen wie zwei Jungverliebte nach dem ersten Frühlingserwachen. Plötzlich schien die Welt schön und grenzenlos, plötzlich fügten sich alle Puzzlesteine zusammen und plötzlich erschien die Standeskluft zwischen den Beiden bedeutungslos - jedenfalls für Naxyria, denn in Bardo keimte eine unbarmherzige Vorahnung, was das sechste Märchen anbelangte. Zeitlebens hatte ihm die Zahl sechs niemals etwas Gutes gebracht. Und er ahnte, nein, wusste, dass es dieses Mal genauso sein würde. Trotzdem musste er auch das sechste Märchen schreiben, um zum siebten zu gelangen, das wiederum Freude, Zuversicht und Glück verhieß. Als die Liebenden ihre Tage miteinander verbrachten, sah Naxyria Bardo zuweilen an, dass etwas nicht stimmte. Aber so oft sie ihn auch fragte, was es sei: er schwieg, weil er sich für seinen Aberglauben schämte. So trennten sich die zwei wieder und verabredeten sich zu einem ungewissen Zeitpunkt, an einem ungewissen Ort, zu einem ungewissen Zweck.    
 
 
   Bardo kehrte als glücklicher Mann nach Hause zurück. Alle Sorgen schienen ihm verflogen und er gönnte sich mehrere Tage, in denen er sich keinerlei Gedanken mehr über seine inneren Verpflichtungen machte. Er ließ die Märchen Märchen sein und vergaß darüber all seine Versprechungen gegenüber Naxyria. Ja, er überlegte sogar eine zeitlang, ob er seinen ursprünglichen Plan nicht einfach über Bord werfen sollte. Naxyria würde ihm das gewiss nicht übel nehmen, da war er sicher. Einerseits sehnte er ein Ende seines poetischen Zyklus herbei, andererseits fürchtete er jedoch die Konsequenzen. Schließlich siegte die Zuversicht, und der Dichter vollendete in zwei Tagen, was er schon vor Wochen zu schreiben begonnen hatte. Natürlich wurde es ein düsteres und trauriges Epos. Der Held musste sich durch die Irrwege eines Labyrinths quälen, an dessen Ende die Liebe stand - die Liebe zwischen zwei ungleichen Partnern; eine Liebe, die alle Grenzen sprengte und schließlich in ein glückliches, märchenhaftes Finale mündete. Das änderte aber nichts an der Trostlosigkeit und Finsternis des Werkes, die sich bald wie ein Schatten über Bardos Seele legte. So übersandte er seiner Königin die Zeilen und verzweifelte an seinem Entschluss. Er ahnte, dass er damit dem Unheil Türen und Tore geöffnet hatte.
 
 
   Bardo sollte nicht falsch liegen - denn die Postkutsche, mit der seine wertvolle Fracht transportiert wurde, fiel dem bösen Zauberer Asgard in die Hände, der von der Liebe zwischen Naxyria und dem Dichter erfahren hatte. Er tötete den Fahrer der Kutsche, schlüpfte in dessen Gewand und machte sich seinerseits auf den Weg zum Königshof, wo Naxyria schon sehnsüchtig auf eine Nachricht ihres Liebsten wartete. Weil die Königin den Boten gut kannte, veränderte Asgard mit einem Zauber sein Gesicht, so dass er dem Boten glich wie ein eineiiger Zwilling. Lediglich seine dröhnende, dunkle Stimme vermochte er nicht zu unterdrücken, so dass der Königin ein kalter Schauder über den Rücken kroch, als der vermeintliche Postbote ihr den Brief mit wenigen Worten übergab. Ansgard reichte ihr das Kuvert mit einen dämonischen Lächeln. Er freute sich, weil er das Märchen verflucht hatte. Und er freute sich auf die Wirkungen seines Fluchs.
  Aufgeregt zog sich Naxyria in die Bibliothek zurück, öffnete  den Brief, entnahm die Blätter und las voller Abenteuerlust und Neugier, was Bardo ihr erdichtet hatte. Sie vergaß sich beim Lesen und bemerkte gar nicht, wie sich die Bibliothek nach und nach mit Dienern, Zofen und Würdenträgern ihres Hofes füllte, die allesamt lasen und dasselbe Märchen in den Händen hielten wie ihre Königin. Sie wirkten wie hypnotisiert, wie aufgezogene Puppen, wie Ratten, die der Flöte eines Rattenfängers folgten. So strömten mehr und mehr Menschen in die Bibliothek, nahmen vorbestimmte Plätze ein und verharrten dort, als ob sie lesen würden. Mit jedem Wort, das Naxyria las, nahmen sie zunehmend die Gestalt ihrer Herrscherin an - Männer verwandelten sich in Frauen, Dienströcke in Hofkleidung, Haare wuchsen, fielen aus, bis schließlich fünfundsechzig Figuren in der Bibliothek standen, die allesamt nicht von Königin Naxyria zu unterscheiden waren. Ihre Herzen hörten auf zu schlagen, ihr Fleisch verwandelte sich in Wachs und das Licht hinter ihren Augen verblich zu einem schwachen Glimmen. Naxyria bemerkte nichts von alledem, ehe es zu spät war. In dem Moment, als sie das letzte Wort gelesen hatte, fühlte sie jedoch plötzlich alles Leben aus sich entweichen und verharrte als eine unter vielen unter den sechsundsechzig Figuren, die sich äußerlich in Nichts mehr von ihr unterschieden. Der Fluch hatte seine Wirkung getan: Naxyrias Hofstaat hatte sich mitsamt seiner Königin in ein makaberes Wachsfigurenkabinett verwandelt.    
 
 
   Ein Diener, der sich während des Fluches außerhalb des Schlosses aufgehalten hatte, entdeckte die schaurige Szenerie am folgenden Tag. Weil er die meisten der Wachsfiguren noch als Menschen gekannt hatte, spürte er, was geschehen war. Seine Liebste verbarg sich unter den Puppen, er fühlte ihre Gegenwart - aber er vermochte nicht festzustellen, um welche der Figuren es sich handelte. Da fasste ihn Verzweiflung und er rannte wie vom Wahnsinn getrieben aus dem Schloss, um aller Welt zu erzählen, was sich am Hofe Königin Naxyrias zugetragen hatte. Man glaubte ihm nicht, doch unter dem Volke verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Die Minnesänger verbreiteten die Kunde in ihren Liedern, Geschichtenerzähler erdichteten spannende Geschichten und fast jeder Bauer, Handwerker oder Soldat glaubte über die Geschehnisse im Bilde zu sein. Was wirklich geschehen war, sollte Ritter Prozebas, ein ehemaliger Vertrauter der Königin, herausfinden. Auf Druck der benachbarten Königreiche übernahm er die Amtsgeschäfte Naxyrias bis auf weiteres, wohl hauptsächlich, weil Naxyrias Verwandte um den Bestand der Monarchie fürchteten. Prozebas galt als ehrenhafter und uneigennütziger Ritter, der sich nur dem Wohl seiner Königin verpflichtet fühlte. So brauchte er nicht lange, um herauszufinden, dass es da einen Dichter gab, der mit seiner Herrin engen Briefkontakt gepflegt hatte. Deshalb schickte er Soldaten aus, ließ Bardo verhaften und sperrte ihn in einen finsteren Kerker nahe der Bibliothek. Prozebas argwöhnte, Bardo sei in ein Komplott verstrickt und könne ihm sagen, wo seine Herrin geblieben sei. Der Dichter aber gab vor, von den Geschehnissen nichts zu wissen und bat seine Wärter um eine persönliche Audienz bei dem kommissarischen Machthaber. Bardo wollte ihm dringend mitteilen, dass er die Anwesenheit Naxyrias im Schloss spüre. Er wusste, er konnte sie finden, sollte man es ihm gewähren, und er war fest entschlossen, alles daran zu setzen, seiner Königin wieder an die Macht zu verhelfen. 
 
 
   Prozebas ließ den Dichter vorführen und hörte ihm aufmerksam zu. Der Ritter war bekannt für seine Auffassungsgabe und Menschenkenntnis. So brauchte er nicht lange, um zu durchschauen, dass Bardo die Königin aufrecht geliebt hatte und ehrlich bemüht war, sich an der Suche zu beteiligen. Weil er das Gesicht des Staates wahren wollte, beließ Prozebas den Dichter allerdings vorläufig in Haft. Bardo durfte sich jedoch in Begleitung zweier Wachen frei im Schloss bewegen. So verstrichen Tage, in denen der Dichter das Gemäuer nach Geheimgängen absuchte, finstere Wendeltreppen erkundete und in vergessenen Dachkammern nach Spuren seiner Königin forschte. Er fühlte ihre Gegenwart, konnte aber die Herkunft dieses Gefühls nicht genauer bestimmen. Nachts allerdings, wenn die Wachen hinter ihm die Zellentür verriegelten, schien ihm die Nähe besonders eng. So eng, dass er bisweilen das Gefühl hatte, Naxyria durch die Mauern hindurch wimmern zu hören. Weil sein Aberglaube schon einmal Berge versetzt hatte, ließ Bardo den Ritter Prozebas bitten, ihm Feder, Tinte und Papier zu überbringen, auf dass er in seiner Zelle ein weiteres, siebtes Märchen für seine Königin schreiben könne. Dieses Märchen, ahnte Bardo, würde ihm den Weg zu Naxyria zeigen. Die Worte pochten an das Tor seines Herzens und schrien nach Freiheit. Jemand musste seine Geliebte verflucht haben, das war Bardo klar, und nur die Kraft der Liebe konnte sie aus den Fängen dieses Fluches befreien. Liebe drückte sich bei Bardo durch die Sprache aus; Sprache wiederum war ein feinsinniges Instrument, die eigenen Gedanken zu ordnen. Deshalb  gewährte Prozebas seinem Gefangenen den Wunsch und ließ ihm alle Zeit, sein siebtes Märchen zu vollenden. 
 
 
   Zwei Tage und zwei Nächte saß Bardo wie im Fieber über seinen Pergamentrollen im Kerker. Zu dem Schreibzeug hatte ihm Prozebas einen Eichenholztisch, einen Kerzenständer und dutzende Kerzen besorgt. Tagsüber fiel fahles Licht durch die Gitterstäbe, nachts flackerten die Kerzen. Bardo schrieb, als wäre er des Teufels. Weder aß noch trank er in jener Zeit. Er redete nichts, fühlte nichts, dachte nichts, verlangte nichts - doch er kam seinem Ziel immer näher. Nach beinahe achtundvierzig Stunden unablässigen Schreibens kehrte sein Bewusstsein schließlich zurück und er lehnte noch eine weitere Stunde wie versteinert über dem Schreibtisch. Die Geschichte war geflossen und Bardo wusste, was mit seiner Königin geschehen war. Er wusste um die bösen Pläne des Zauberers Asgard, er wusste um das makabere Wachsfigurenkabinett und ihm war klar, was er tun musste, um den Fluch zu brechen. Nie hatte ihm jemand von der Bibliothek und den sechsundsechzig Wachsfiguren erzählt. Denn zum einen hielt man das nicht für notwendig, zum anderen hatte Prozebas strikt untersagt, die mystischen Spekulationen rund um das Verschwinden der Herrscherin weiter anzuheizen. Er sah darin die Ernsthaftigkeit seiner Ermittlungen gefährdet. Außerdem war er ein vernunftbegabter Mann, der alle Zauberei für Aberglauben und Scharlatanerie hielt. Bardo aber hatte sich die Wahrheit durchs Schreiben erschlossen und bat um eine weitere Audienz bei dem kommissarischen Herrscher. 
 
 
   Der Ritter zögerte nicht lange und ließ Bardo bei sich vorführen. Er bat ihn, sein Märchen vorzutragen, damit er erkennen könne, welche Gedanken dem Dichter gekommen seien. Das Märchen spiegelte die Erlebnisse zwischen Bardo und der Königin wieder. Gleichzeitig verknüpfte es die Geschehnisse mit den anderen sechs zyklischen Dichtungen, von denen außer Bardo nur Prozebas wusste. Denn als das schreckliche Wachsfigurenkabinett seinerzeit entdeckt worden war, hatte der Diener übersehen, dass alle Figuren einen Text in den Händen hielten, dessen Titel „Labyrinth“ hieß. Nachdem Bardo sein Märchen vorgetragen hatte, verharrte Prozebas einige Minuten gedanken-versunken auf seinem Stuhl. War der Dichter nun doch an einem Komplott beteiligt? Oder wusste er aus Erzählungen von den Wachsfiguren in der Bibliothek? Seine Wärter hatten ihm versichert,  Bardo habe ein Einsiedlerleben geführt, das es sehr unwahrscheinlich machte, dass der Dichter von den Wachsfiguren wusste. Wie also war dieses Wissen in sein Märchen gelangt? Argwohn schien hier angebracht. Auf der anderen Seite sagte Prozebas innere Stimme, dass er dem Poeten vertrauen konnte. Als der Ritter all dies erwogen hatte, klatschte er in die Hände, erhob sich und gab Bardo ein Zeichen, ihm zu folgen. Wenig später fanden sich Beide in der Bibliothek wieder. 
 
 
   Als Bardo sich umschaute, war er erschrocken über das gespenstische Bild, das sich ihm darbot. Sechsundsechzig Wachsfiguren, die seiner Geliebten glichen wie eineiige Zwillinge: Sie standen kreuz und quer verteilt zwischen den Bücherregalen. Scheinbar waren die Statuen allesamt in eine Lektüre vertieft, die sie magisch zu fesseln schien. Sein sechstes Märchen lag in den Händen einer jeden von ihnen, und wenn man sich ein wenig vorbeugte, war zuoberst jeweils das Titelblatt mit der Überschrift „Labyrinth“ zu erkennen. Eine dünne Staubschicht bedeckte ihre Kleidung, besonders an den Schultern, in den Haaren der vermeintlichen Königinnen schimmerte es weißlich. Prozebas blieb am Ausgang stehen und beobachtete Bardo aufmerksam. Er war zufrieden über die Reaktion des Schreiberlings, denn seine Mimik zeigte ehrliches Erstaunen. Der Dichter schritt mit fragendem Blick durch die Reihen, als bewege er sich tatsächlich durch ein Labyrinth. Er musterte jede der Figuren, blickte tief in ihre Augen und achtete auf jedes Detail, das ihm verraten konnte, welche davon ehemals die Königin gewesen sein konnte. Denn die Puppen glichen sich zwar äußerlich, verströmten aber gleichzeitig eine spürbare Aura, die noch eng mit den ehemaligen Persönlichkeiten der Verfluchten verwoben war. Bardo wusste zwar, was zu tun sei, wenn er seine Naxyria erst gefunden hatte, aber er wollte kein Risiko eingehen, das sein Ziel gefährden konnte. Deshalb verharrte er minutenlang vor jeder Statue, ging mehrmals um sie herum, beugte sich vor, musterte sie Zentimeter für Zentimeter, achtete auf die Stellung der Hände, der Beine, die Haltung der Schultern, die Form des Nackens, den Glanz der Haut, kurzum: auf alles, was man als Liebender bei seiner Geliebten nur achten konnte. So verstrichen zwei Stunden, in denen Bardo sich umschaute, während Prozebas ihn reglos vom Eingang der Bibliothek aus beobachtete. 
 

Am Ende stellte sich Bardo gegenüber einer der Figuren auf, entfaltete die Blätter mit dem Märchen und begann seine Geschichte ruhig und besonnen vorzutragen. Er war sich sicher, die rechte Wahl getroffen zu haben, denn andernfalls wären ihm die Worte wohl im Halse stecken geblieben. Der Strom seiner Sentenzen erfüllte den Raum wie der Klang einer Musik aus fremden Sphären. Prozebas war beeindruckt von dem Vortrag. Er fiel leidenschaftlicher und inniger aus als noch bei der ersten Lesung. Sogar als Außenstehender konnte man fühlen, wie sich in der Bibliothek der Atem der Liebe verbreitete. Mit jedem Wort, das Bardo las, schien ein Stück Leben in die Statuen zurückzukehren. Prozebas beobachtete wie die Blätter in den Händen der Verfluchten eins ums andere von einem nicht spürbaren Wind empor gewirbelt wurden. Mit jeder Seite, die Bardo las, schwebten sechsundsechzig Blätter davon und lösten sich oberhalb der Bücherregale in nichts auf. Nach und nach drang die ursprüngliche Aura der Verfluchten in die Wachsfiguren zurück, während das Glimmen hinter ihren Pupillen aufflammte und ein Ende des Fluches verhieß. Vor den Augen des Ritters verwandelten sich die Statuen in das, was sie einst gewesen waren: Männer wurden wieder zu Männern, Zofen zu Zofen, Herren zu Herren und Diener zu Dienern. Die Metamorphose endete, als sich Königin Naxyria rührte und das letzte Blatt des sechsten Märchens lautlos durch ihre Finger gleiten ließ. Ein Raunen und Murmeln brandete auf, denn auch die anderen Statuen verwandelten sich wieder in Menschen. 
 

Königin Naxyria wandte ihren Blick nach oben, strahlte Bardo an, trat auf ihn zu und die Beiden versanken vor dem versammelten Hofstaat in einen innigen Kuss. So bewirkte das siebte Märchen, was sich Bardo von ihm versprochen hatte und alle Welt erfuhr von der Liebe zwischen der schönen Königin und dem Dichter. Wegen seiner Schreibkunst und der Kunde vom siebten Märchen dauerte es nicht lange, bis Bardo vom Volke und von seinen Kollegen als neuer Mann an der Seite der Herrscherin akzeptiert wurde. Und so lebten sie glücklich und zufrieden, herrschten über das Land Prosaria und verhalfen der Kultur des kleinen Staates zu neuem Glanze. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute…

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