Es
war einmal eine alternde Königin namens Sybille. Sie lebte in einem
Schloss hoch droben im Gebirge des Landes Agathon, an der Quelle des
Flusses Sinap, der ihr Königreich mit Wasser und Leben speiste.
Obwohl ihre Untertanen die Königin liebten, hatte sie sich
weitgehend zurückgezogen und ihren Hofstaat mit den Jahren immer
mehr verkleinert. Das konnte sie sich leisten, weil ihr Land karg und
unwirtlich war und kein fremder Herrscher je nach ihrem Reich
trachtete. Die Bewohner Agathons lebten daher in Ruhe und Frieden,
ohne jemals das hässliche Gesicht des Krieges gesehen zu haben. Sie
zahlten ihre Steuern ohne Not, bebauten karge Felder und Äcker und
sie lebten von ihrer Hände Arbeit wie bescheidene Menschen das tun
sollten. Weil Königin Sybille ihre Herrschaft nicht mit Zwang und
Unterwerfung durchsetze, behaupteten Spötter aus Nachbarländern
zuweilen, im Lande Agathon herrsche Anarchie. Doch nicht Anarchie
bestimmte das Leben im Land der Berge und Seen, sondern eine
gleichgültige Form des Friedens, die ihren Grund in den
majestätischen Felsformationen hatte, die sich im Gebirge
allgegenwärtig gen Himmel reckten. Die Landschaft ließ die Menschen
spüren, wie klein und bedeutungslos ihr Leben doch war. Schwarze
Basaltnadeln ragten zerstreut aus Borstgrasrasen empor und
erschwerten den Bauern die Ernte, steinig und nährstoffarm
präsentierte sich die Feldkrume. Das Leben forderte Kraft, Ausdauer
und einen Sinn für die Grenzen des Daseins. Ein kühles Reizklima
beherrschte ganzjährig das Wetter. In diesem Schmelztiegel der rauen
Elemente, alterten die Bewohner Agathons schneller und welkten schon
in der Mitte ihres Lebens dahin wie Rosen an der Herbstsonne. Auch
Königin Sybille traf dieser Fluch. Deshalb führte sie das Leben
einer Einsiedlerin, die nach und nach in ihrem Schloss verblühte.
Sybille
galt weit über die Grenzen Agathons hinaus als weise und kluge
Herrscherin. Das lag auch daran, dass sie ihre Krone schon seit
Kindertagen trug, nachdem ihre Eltern plötzlich und unerwartet
verstorben waren. Sie hatte mehrere Geschwister großgezogen und sich
gleichzeitig im Geschäft einer Monarchin geübt. Alle Versuche von
Verschwörern, der jungen Monarchin das Zepter aus der Hand zu
reißen, waren kläglich gescheitert. Sanftmütig beherrschte sie das
Land und brachte ihren Untertanen nur Frieden und Glück. Ihr
Handwerk hatte die Königin aus Büchern erlernt: sie kannte die
großen Philosophen, wusste um die Welt der Religionen und war
vertraut mit den Gesetzen der Ethik. Was ihr in ihrem Leben fehlte,
war allein die Liebe, die sie als Herrscherin niemals zugelassen
hatte. Denn als Königin lebte sie für ihr Volk und das Land und
blendete alles aus, was sie von dieser Aufgabe abhielt. Ihr Glück
hatte sie vertagt – vertagt auf eine Zeit, die einst kommen sollte,
wenn sie ihr Amt niederlegte und die Herrschaft auf einen Nachfolger
übertragen würde. An einem kühlen Novembermorgen war diese Zeit
gekommen. Mit unnachgiebiger Klarheit erkannte die Königin, dass sie
ihr Amt an ihren ältesten Neffen abtreten musste. So rief sie ihren
Hofstaat beisammen und trug dem Zeremonienmeister auf, die Krönung
von König Karl vorzubereiten - die Krönung ihres Lieblingsneffen,
der an ihrem Hof lebte und sich als gelehrsamer und weiser Schüler
entpuppt hatte. Niemand anderem wollte sie diese Verantwortung
aufbürden. Und von nun an trachtete sie nach einem Leben, in dem sie
sich alle Wünsche erfüllen wollte, die sie sich bislang versagt
hatte.
Die
Krönung Karls fand an einem kühlen Morgen im Monat März statt. Im
ganzen Reich herrschte helle Aufregung, weil die Untertanen
befürchteten, dass der Machtwechsel ihrem friedvollen Dasein ein
jähes Ende bereiten könnte. Sybille wusste, dass diese
Befürchtungen unbegründet waren und zog sich frühzeitig und
beschwingt in ihre Gemächer zurück. Sie wollte mit sich und ihren
Wünschen alleine sein und sich für den Rest des Tages Gedanken
machen. Von einer plötzlichen Unruhe übermannt, ging sie im Salon
auf und ab. Etwas stand ihrem Glück im Wege, etwas, dass sie sich
bislang nie bewusst gemacht hatte. Mächtige Spiegel erstreckten sich
entlang der Salonwände, Spiegel, deren Rahmen mit feinen Arabesken
verziert waren, die sehr weibliche Formen abbildeten. Formen der
Liebe und des Glücks, die sich nur dem aufmerksameren Betrachter
erschlossen. Sybilles Blicke verharrten einen Moment auf den
Verzierungen und wanderten von dort aus direkt in die Spiegelfläche.
Entsetzt erkannte die Königin, wie sehr sie in den letzten Jahren
gealtert war. Die Haut um ihre Augen schien erschlafft und auf ihrer
Stirn zeichneten sich tiefe Furchen ab, die von einem bewegten Leben
im Dienste des Staates zeugten. Sie hatte diesen Staat immer über
sich und ihre Interessen gestellt. Doch als sie sich nun ansah und
die Spuren des Lebens gewahrte, fragte sie sich, ob ihr Weg der
richtige gewesen war. Denn ein Leben ohne Liebe war ein Leben ohne
Freude. Und nur derjenige konnte ein solches Dasein ertragen, der
sich mit Arbeit und Disziplin aus der Verantwortung gegen sich selbst
stahl. Wie aber sollte Sybille noch einmal Liebe finden, wo sie
äußerlich verwelkte und ihre Schönheit verloren hatte? Die Königin
war verzweifelt, weil sie keine Antwort fand.
Tagelang
verkroch sie sich in ihr Zimmer oder schmökerte in der Bibliothek in
den Büchern der Weisheit. Dabei stieß sie auf eine alte Legende,
wonach sich am Gipfel des Berges Faton ein Brunnen befinden sollte,
über den man Kontakt zur Quelle der Liebe aufnehmen könne. Nach der
Legende hatte eine Fee den Brunnen einst errichtet, nachdem sich
König Georg III aus Verzweiflung über sein leeres Leben aus dem
Schlossturm gestürzt hatte. Im Lande Agathon wurde bis heute noch
viel über dieses Ereignis gesprochen, denn Georg III war ein
sanftmütiger und wohlwollender König gewesen. Der Brunnen hieß
„Jungbrunnen der Worte“, denn, wie es hieß, sollte derjenige
wahre Liebe erfahren, der dem Brunnen seine innersten Sehnsüchte
anvertraute. Wie das geschehen sollte, war Sybille noch nicht klar.
Aber sie packte Proviant für vier Tage zusammen und machte sich mit
zwei Maultieren auf, um den Gipfel des Berges Faton zu erklimmen. Die
Route war nicht weiter beschwerlich, denn das Felsmassiv bot breite
Wanderwege, die weder den Maultieren noch der Königin größere
Umstände bereiteten. Nach zwei Tagen zog jedoch am Fuß der
Felsformation ein schweres Unwetter auf, das Schnee und starke Winde
brachte, was Sybille wiederum zwang, sich in einer Höhle unterhalb
des Hauptkamms zu verkriechen. Die Höhle befand sich etwa zwei
Stunden vom Gipfel entfernt und bot ausreichend Schutz gegen die
Kälte. Mensch und Tier wärmten einander und machten sich den
Aufenthalt gegenseitig erträglich. Zu ihrem Erstaunen fand Sybille
den Grund der Höhle mit Stroh gepolstert. In den Ecken standen
Fässer mit Zwieback, Butter und Apfelmost. Der Königin war
unerklärlich, wie diese Vorräte ihren Weg in die Höhle gefunden
hatten. Aber natürlich nahm sie sie dankbar an und zehrte davon.
Nachdem
das Unwetter nachgelassen hatte, band Sybille ihre Maultiere an einer
Basaltsäule fest und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Gipfel. Ein
schmaler Trampelpfad führte über Felder aus Gesteinsscherben in
flacher Linie bergauf. Etwa eine halbe Stunde vor ihrer Ankunft
erkannte Sybille am Horizont tatsächlich einen Brunnen am Gipfel
stehen, um den ringförmige Wolken zu tanzen schienen. Der Brunnen
ähnelte einem gewöhnlichen Schlossbrunnen, mit einer spitzgiebligen
Ziegelüberdachung und einem Zugseil, das über ein Ebenholzgestänge
mit einer Holzkurbel vom Brunnenrand aus bedient werden konnte. Nur
hing an dem Zugseil kein Eimer, sondern eine Box, die in Form und
Gestalt an ein Buch erinnerte. Sybille erkannte im Halbdunkel der
Brunnenwände, wie die Box zwischen den Brunnenmauern hin und her
pendelte. Vorsichtig kurbelte sie das Seil nach oben, bis sie das
schwarze Behältnis mit ihren Händen greifen und an den Brunnenrand
ziehen konnte. Es handelte sich um einen schmalen Blechkasten, dessen
eine Seite mit sieben winzigen Schieberiegeln versehen war, die
verhinderten, dass der Kasten seinen Inhalt an den Brunnen verlor.
Vorsichtig öffnete Sybille die Schlösser und öffnete den
Blechkasten, wobei die Scharniere vernehmlich quietschten. Ihre Hände
zitterten, als sie im Inneren des Behältnisses auf ein wundervoll
gestaltetes Buch mit Goldbeschlägen und Edelsteinverzierungen stieß,
das von unschätzbarem Wert zu sein schien. Vorsichtig blätterte sie
einige Seiten darin um und musste erkennen, dass nicht eine Seite in
dem Buch beschriftet war. Neugierig betrachtete sie den Einband von
allen Seiten, inspizierte Seite für Seite und betastete das grobe
Leinenpapier mit ihren Fingern… Was sollte das bedeuten? Ein Buch
ohne Inhalt, das sich am Gipfel eines Berges verbarg? Warum nur hatte
sie es gefunden? Sie war auf der Suche nach dem Jungbrunnen der Liebe
gewesen. Stattdessen war sie lediglich auf eine leere Hülle
gestoßen, die ihr weder Erleuchtung noch Hilfe brachte. Was sollte
sie davon halten? Wollte ihr das Schicksal einen Streich spielen?
Sybille
klemmte sich das Buch unter den Arm und ging verstimmt um den Brunnen
im Kreise. Verbittert erkannte sie, welche hohen Erwartungen sie
hierher geführt hatten und wie diese Erwartungen, wie Sand zwischen
ihren Fingern zerronnen waren. Dabei war sie ganz von ihrer Sehnsucht
nach Liebe beseelt, die sie mit äußerer Schönheit, einem hellen
Charakter und lichten Momenten des Glückes verband. Sie wünschte
sich, von einem Menschen verstanden zu werden, der sie so annehmen
konnte, wie sie war. Doch weil sie sich misanthropisch nur noch an
ihre verkümmerte Schönheit erinnerte und ihre inneren Werte
übersah, drang eine tiefe Melancholie in ihre Seele. Diese
Melancholie befahl ihr, das Buch wieder in den Blechkasten zu legen
und erst einmal in die Höhle mit den Maultieren zurückzukehren. So
zog Sybille das Seil mit dem Behältnis erneut zum Brunnenrand,
öffnete die sieben Riegel und verwahrte das Buch im Kasten. Weil der
Kasten aber vom Zug des Seiles nach und nach über den Brunnenrand zu
rutschen drohte, wäre Sybille das Buch beinahe aus den Händen
gefallen. Sie konnte es gerade noch auffangen, wobei einige Seiten
umknickten und ihr nunmehr einen Inhalt präsentierten, den sie
zunächst nicht bemerkt hatte. Neugierig schaute Sybille, was auf den
Seiten geschrieben stand. Kreidebleich wich sie drei Schritte zurück
und warf das Buch zurück auf die Rundmauern. Ihr war, als habe sie
sich an dem Einband verbrannt. Sehr vorsichtig trat sie wieder vor an
den Brunnen und las von weitem die Worte, die ihr zuvor einen solchen
Schrecken eingejagt hatten: Es waren ihre eigenen Worte, die da
geschrieben standen, jene Worte, die ihr durch den Kopf gegangen
waren, als sie enttäuscht ihre Kreise um den Brunnen gezogen hatte.
Worte von einer Klarheit und Schönheit, die sie selbst gar nicht
zugetraut hätte. Offenbar hatte das Buch ihre Gedanken gefiltert und
sie in eine lyrische Sprache gefasst, die eine geradezu mystische
Kraft entfaltete. Verse der Wahrheit fanden sich zwischen den
Buchrücken, Verse der Weisheit und der Sehnsucht, die Sybille ganz
tief vom Grund ihrer Seele geschöpft und an das Buch übertragen
hatte. Als sie das erkannte, fühlte sie, wie ihre verloren
geglaubten Kräfte in sie zurückkehrten, die sie in ihrer Rolle als
Königin aufgebraucht hatte. So verwahrte sie das Buch in dem
Blechkasten, ließ ihn am Zugseil zurück in den Brunnen sinken und
kehrte zurück zu ihren Maultieren.
Etwas
Sonderbares war mit Sybille vorgegangen, das wusste sie. Aber sie
konnte noch nicht in Worte fassen, was das gewesen war. Von dem Buch
war eine Energie ausgegangen, die ihre Fingerkuppen hatte vibrieren
lassen. Nun, da sie auf dem Rückweg war, meinte sie zu erkennen,
dass ihre grazilen Finger weniger Falten hatten als sie sich erinnern
konnte. War ihre Haut tatsächlich glatter und weicher geworden oder
bildete sie sich das ein? Was war am Gipfel des Berges Faton mit ihr
geschehen? Sie versorgte ihre Mautiere mit Zwieback und Wasser und
wollte erst am nächsten Tag über das Erlebte nachdenken. Also
bettete sie sich in ihrer Höhle auf Stroh und legte sich zur Ruhe.
Eine Nacht mit wundervollen Träumen stand ihr bevor. Eine Nacht mit
Träumen von der Liebe und von dem Glück einer zweiten Existenz, die
sie noch lange tragen sollte.
Am
nächsten Morgen dachte die Sybille kurz darüber nach, ob sie ins
Schloss zurückkehren sollte, denn schließlich war sie schon drei
Tage unterwegs. Da ihre Höhle aber noch mit Proviant für Wochen
gefüllt war, entschied sie sich anders und kehrte zu Fuß auf den
Berggipfel zurück. Zielstrebig kurbelte sie den Metallkasten mit dem
Buch nach oben, öffnete die Scharniere, entnahm das Kunstwerk und
begann, nochmals darin zu lesen. Ein Anflug von Gänsehaut übermannte
sie, der über ihren Rücken glitt und nach und nach den ganzen
Körper erfasste: Nicht mehr ihre Worte waren nun zu lesen, sondern
die Worte eines Königs aus dem fernen Lande Cheruba, der die
Sehnsüchte der Königin teilte und ihre Zeilen offenbar gelesen
hatte. Der König hieß Herdane und schilderte, wie sehr ihn die
Worte der Sybille berührt hatten. In zahlreichen Gedichten besang er
die Königin der Berge und flehte sie an, sie möge mit ihm in
Verbindung bleiben. Er schrieb ihr von seinem Leben, von seinen
Sorgen, von seinem Glück und seiner Einsamkeit. Und was er schrieb,
zeigte Sybille, dass er sie voll und ganz verstanden hatte. So nahm
sie das Buch, klemmte es nochmals unter ihren Arm und drehte ihre
Kreise um den Brunnen, indem sie tief in ihre Gedanken versank und
dem Buch ihre innersten Sehnsüchte anvertraute. Weil sie sich beim
letzten Besuch des Brunnens so erschrocken hatte, verstaute sie ihre
Zeilen anschließend in dem Blechkasten, ohne noch einmal darin zu
lesen. Sie vertraute auf die Kraft ihrer Worte und sie konnte spüren,
wie von dem Buch wieder ein Stück ihrer verlorenen Energie in sie
zurückfloss. Am heutigen Tage war das sogar zweimal geschehen:
Nämlich beim Lesen von Herdanes Worten und bei ihrem konzentrierten
Gang um den Brunnen.
Als
die Königin in ihre Höhle zurückkehrte, schienen ihre Maultiere
irritiert zu sein. Sybille hatte den Eindruck, dass sie etwas vor ihr
scheuten, obschon sie sie bereits versorgte, seit sie auf der Welt
waren. Sie dachte sich erst nichts weiter dabei. Aber als sie einen
Moment lang innehielt und sich den Schweiß von der Stirne wischte,
bemerkte sie mit einem Mal, dass ihre Gesichtshaut an einer Stelle
vollkommen glatt anfühlte, an der sie sich als junge Frau einst
schwer verletzt hatte. Oberhalb ihrer rechten Augenbraue musste sich
eine winzige Narbe ertasten lassen, die nun offenbar nicht mehr da
war. Was geschah nur mit ihr? War der Jungbrunnen der Worte
tatsächlich ein „echter“ Jungbrunnen? Sie hatte das bislang nur
als Metapher begriffen und danach getrachtet, in den Bergen ein wenig
von dem Gefühl der Liebe zu spüren. Nun aber gewahrte sie, dass es
mit der Wirkung des Brunnens wohl tatsächlich etwas auf sich hatte,
das sie dringend weiter erkunden und erfahren musste. So machte sie
sich auf, einen kleinen Bergweiher unweit der Höhle zu besuchen,
blickte in das klare unbewegte Wasser und schrak zurück, als sich
auf dem Wasserspiegel das Gesicht einer jungen, vielleicht
fünfundzwanzigjährigen Schönheit spiegelte. So hatte Sybille
ausgesehen, als sie noch jung war und so wollte sie dem König
Herdane einst gegenübertreten, der sie mit Worten so angenehm
verzückt hatte.
Sybille
verbrachte noch mehrere Tage in den Bergen und pendelte zwischen dem
Jungbrunnen und ihrer Höhle stetig hin und her. Durch die vielen
Briefwechsel entstand ein inniges Verhältnis zwischen ihr und dem
fernen König und sie lernten einander auf eine Weise kennen, die
sich kaum ein Mensch vorstellen kann. Denn wenn der Mensch Briefe
schreibt, wohnt er näher an seiner inneren Quelle als der sprechende
Mensch. Die Gedanken gedeihen schneller und eindrucksvoller und
zwischen den Zeilen entsteht eine Nähe, die für den oberflächlichen
Menschen kaum greifbar ist. So verliebten sich die beiden Monarchen
und verabredeten sich, einander auf halbem Wege zu treffen, auf dass
sie sich endlich in Fleisch und Blut gegenüberstehen sollten. Tags
darauf wandte sich die Königin gen Süden und zog mit ihren
Mautieren durch das Gebirge davon. Gleichzeitig machte sich der König
auf in Richtung Norden, dem fernen Gebirge entgegen. Beide Liebenden
kannten ihren Weg nicht. Aber sie ließen sich von den Sternen leiten
und vertrauten darauf, dass sie schon bald zueinander finden würden.
Keiner der Beiden zweifelte, keiner der Beiden verzweifelte und
keiner der Beiden ließ sich durch die Wanderung seinen Gleichmut und
seine Zuversicht rauben.
Monate
vergingen, bis sie sich schließlich vor einem leer stehenden Haus,
mitten in der Einöde trafen. Sie wussten beide nicht, in welchem
Reich sie sich befanden, aber es war offensichtlich, dass das
Schicksal ihnen eine Heimstatt bereitet hatte, die für ein
bescheidenes und glückliches Leben auf dem Lande ausreichte.
Schließlich hatten die beiden Liebenden ihre Jugend wieder gefunden
und verfügten über genügend Kraft, sich auf dem rauen Lande zu
behaupten. Und so lebten sie glücklich und bescheiden als Mann und
Frau in der Einöde, einig im Denken, einig im Fühlen, einig im
Handeln und verbrachten ihre glücklichsten Momente unter dem
Sternenhimmel, der ihnen immer neue Geschichten vom Leben zu erzählen
schien. Geschichten, die aus den Sternen flossen und die sich die
Liebenden gegenseitig übersetzten.
Und wenn sie nicht gestorben
sind, dann leben sie noch heute…
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